580 Die deutsche Einheit
Komödiantin, schämt man sich nicht der Bewunderung preiszugeben, nnd ich wette, wenn sie hier aufträte, sie würde mit Gold und Lorbeerkräuzen beladen heimkehren. Auf den Theaterzetteln der königlichen Bühnen machen sich die Chabrier, Ohnet, Pailleron nnd Sardon neben andern Ausländern wie Mascagui, Björnsou und Ibsen breit, nnd vorigen Herbst konnte es geschehen, daß ich sünf oder sechs Tage lang mit einem Freunde, dem ich die vollendeten Aufführungen des Residenztheaters hatte zeigen wollen, nicht ein einziges deutsches Stück zu sehen bekam. Das jüngste „Kind der Musen" von Bedeutung war Ibsens „Hedda Gabler"; bei der unglaublichen Erscheinung, daß ein solches Machwerk Eingang ans einer Hofbühne gefunden hat, fragt man sich nur, warum dauu Dumas berühmter und jedenfalls kurzweiligerer „Fall Clemeneeau" ausgeschlossen bleibt? An Verworrenheit und Versuukeuheit aller sittlichen Begriffe find beide Werke einander völlig ebenbürtig.
Mit der knechtischen Bewunderung für Paris geht ein eifersüchtiger Haß gegen Berlin Hand in Hand — schon das obige Beispiel zeigte es. München ist Hauptstadt uud Residenz, so gut wie Berlin. Berlin hat die fünffache Einwohnerzahl; das ist leider nicht wegzuleugnen. In allen übrigen Stücken kann und soll und muß es aber Jsar-Athen der Nebenbuhlerin au der Spree mindestens gleich thun. Ja in den Köpfen echt bajuvarischer Bierphilister übertrifft es die Kaiserstadt bei weitem. Die Eifersucht raubt den Münchnern derart die Besinnung, daß sie auch vor der Lächerlichkeit nicht zurückschenen. Daß Berlin dnrch musterhafte Verwaltung eine der reinlichsten Städte ist, weiß die Welt. Ebenso bekannt und von den Münchnern selbst dnrch zahlreiche Spott- uud Klagerufe bestätigt ist der — gelinde gesagt — zweifelhafte Zustand der Münchner Straßen. Wagt es aber ein Fremder, diese öffentlichen Geheimnisse in Gegenwart eines Münchner Kindes zur Sprache zu bringen, dann wird ihm mit eindringlichster uud nicht immer sanfter Beredsamkeit nachgewiesen, daß es in Berlin bei Regenwetter mindestens ebenso naß sei wie in München, lim das in den engen Straßen schier unerträgliche Geräusch zu mildern, würde mau gern Asphaltpflaster einführen. Aber Berlin hat dieses Auskunftsmittel vorweggenommen, und Berlin etwas nachmachen — lieber stellt mau den Münchner Gäulen ein Armutszeugnis aus, indem man Unglücksfälle vorhersagt auf einem Boden, an den sich die Berliner Nvßwelt nach kurzer Anpassung längst gewöhnt hat.
Das sind kleine, aber bezeichnende Züge für die Münchner Denkungsart, um so bezeichnender, wenn man das gegenseitige Verhältnis der Städte andrer Länder betrachtet. Ganz zu schweigen von Frankreich und England, wo die länger bestehende staatliche Einheit den Hauptstädten ein erdrückendes Übergewicht verschasst hat, möchte ich mir auf Italien hinweisen, dessen Einigungsgeschichte der unsrigeu in so wesentlichen Stücken gleicht. Gewiß sind Mailand, Neapel und Florenz an sich nicht »veniger bedeutend als Rom, iu der Be-