574 Zwei Nekrologe
die konventionelle Zeichnung vorführt. Dazu kommt, daß es Windthorst liebte, von Mnnd zn Mnnd zn verhandeln, und die ungeschriebenen Vereinbarungen, an denen er mit unbedingter Zuverlässigkeit festhielt, mögen als Schlüssel für sein Verhalten eine Anfklärnng bieten, die wir in den Akten nie finden werden. Da aber, wenn nicht alle Anzeichen trügen, die Ereignisse der letzten Jahre zum Entstehen einer Memvirenlitteratur führen werden, so bringt vielleicht die Zukunft ein heute uoch fehlendes Licht.
Wie aus dem Vnuersohn eiu Advokat, aus diesem ein Minister wurde, der, bald gestürzt, sich doch wieder erhob, um zur Zeit der großen Katastrophe, die das Haus Hannover beseitigte, die letzten abschließenden Verhandlungen zu fuhren, wie sich dauu aus dem Welsen der katholische Oppositionsmann herausschälte, der es verstand, die Partei des Zentrums gewissermaßen aus dein Boden zu stampfen, wie er als einziger unter allen deutschen Parlamentariern dem Fürsten Bismarck einen Widerstand entgegensetzte, den dieser nicht zu brechen vermochte, daS alles ist in der politischen Geschichte der letzten Jahrzehnte entscheidend gewesen. Wir haben keinen Anlaß, uns seiuer Wirksamkeit zn freuen. In einer Zeit, die die Gewissensfreiheit auf ihre Fahne geschrieben hat, ist er bemüht gewesen, die Schärfe und Unduldsamkeit konfessioneller Gegensätze zn erhalten. Dem erstarkenden Neichsgedanken hat er eine partiknlaristische Gegenströmung in den Weg geworfen, nnd wenn er hie nnd da in den Augenblicken großer Entscheidungen sich und seine Partei der Regierung zu Diensten stellte, ohne einen greifbaren Lohn hat er es nie gethan, nnd nie ist er auch mir um Fußesbreite von dem einmal gewonnenen Boden zurückgetreten. Die größte seiuer Leistungen bleibt, daß er fast ein volles Menschenalter hindurch die aus den verschiedenartigsten Bestandteilen zusammengewürfelte Partei zusammenznhalten verstand, nnd daß er es thatsächlich durchsetzte, daß eine parlamentarische Laufbahn für einen Katholiken außerhalb des Zentrums so gut wie nndenkbar wurde. Nun scheint allerdings der Welfe nnd Partiknlarist iu Wiudhvrst allmählich an Schürfe verloren zu haben; er wußte sich gelegentlich in den letzten Jahren mit seiner deutscheu und reichstreuen Gesinnung auf einen Sockel zu stellen, der ihn über die Tendenz seiner Alltagspvlitik erhob: so, als er die Mittel für eiue verstärkte Ausrüstung der Neichswehrkraft schließlich bewilligte, vder als er für die Kolonialpvlitik eintrat. Aber nicht mit Unrecht hat ein freisinniges Blatt ans ihn das Wort angewandt, das in Wallensteins Lager der Volksmund von dem großen Feldherrn des dreißigjährigen Krieges braucht: Weiß doch uiemnnd, an wen der glaubt! Pathos lag seinem Wesen fern; er liebte es, Gefühlserrcgnngen durch eiu Witzwort zu brechen; uud wcuu er iu frühern Jahren eiue der Reden zn bekämpfen hatte, durch die der große Kauzler dem Reichstage seine Znstimmnng abzuzwingen Pflegte, dann war seine Waffe meist jene spöttische und witzelnde Ironie, durch die er die Stimmuugsatmosphäre zn verändern