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zwischen deu. Gegensätzen herum und will sie übernnuden, nicht etwa durch eine neue Idee, sondern indem er sich von jedem System in der subjektivsten Weise der Welt das „Bessere" holt. Nicht eine Ahnung davon, daß in den Philosophien der großen Geister ein innerer, organischer Zusammenhang besteht (zninnl von dem Gesichtspunkte der allgemeinen Lebensführung und Lebensanschnunng), ist Carneri anfgegangen. Mau kann doch z, V. nicht Kants Lehre von der Erscheinung nud dem Ding an sich annehmen uud gleichzeitig dem kalten Mechanismus der modernen Naturwissenschaft huldigen und als Darwinist die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit für abgethan erklären, wie es Carneri thut. So wie Kant selbst, ohne eine Metaphysik schaffen zu wollen, doch notwendigerweise zu den Postulaten der Praktischen Vernunft gelangte, so konnte auch die nachkantische Philosophie beim Grcuzbcgrifs des Dinges nn sich nicht stehen bleiben nnd strebte mit Notwendigkeit nach seiner Deutung in irgend einer Weise, indem sie es entweder geradezu leugnete oder als Wille, Ich, Absolutes oder wie immer zu fassen suchte. Es ist darum lächerlich flach, wenn Carneri erklärt: „Der naive Materialismus sieht gänzlich ab von Kants idealem Weltbild, nach welchem wir über das Ausich- seiu der Dinge nichts wissen, weil sie nns nur als das erscheinen können, zu dem nnsre Organisation sie für uus gestaltet. Was sie au sich sind, ist für nns vollkommen gleichgiltig, sobald sie es nicht für nns sind, wir folglich nichts davon haben" n, f. w. Diese Schen vor der Metaphysik, vor dem zu Ende denken eines begonnenen Gedankens ist geradezu komisch. Aber dieses eine. Beispiel diene für viele. Es ist der Vildungsphilistcr, der sich von allen Wissenschaften nnd Philosophien und Künsten etwas, was ihm am leichtesten eingeht, holt, um deu Brei des „modernen Menschen" daraus zu rühren. An einer Stelle erklärt er den Religionsunterricht in den Mittelschulen geradezu für eiu Verbrechen nn der Wissenschaft und der Jugend; man muß allerdings, um die Schärfe des Ausdrucks zu begreifen, bedenken, daß Carneri in einem katholischen Lande zu Hause ist. Er ist aber doch weit davon entfernt, die edelste Blüte des religiösen Lebens, die Demut, im Kreise seiner ethischen Forderungen entbehren zn können. Auf der Demut beruht die Glückseligkeit, der bloße Moralunterricht kann dieses Gefühl nicht erzengen. Wie hilft sich nun der Vertreter der vorwiegend naturwissenschaftlichen Weltanschauung? Dadurch, daß er fordert, daß die Kiuder im Elementarunterricht, aber auch nicht eine Stunde länger die Lehren von einem gütigen Vater im Himmel nnd einer sittlichen Weltordnuug etwa so anhören, wie sie die Märchen glänbig lesen, um sie dann aufgeklärt zu belächeln. Und das Null ein Ethiker sein? Ein Schwachmatikus ist er, eiu Halber, deu Daute in das Juferno verbannen würde für ewige Zeiten. Und derart sind seine Winke für die Lebensführung des modernen Menschen alle: vorsichtiges Pendeln zwischen deu Gegensätzen. Heiraten ist gut, aber nicht aus Leidenschaft; Almosen geben ist gilt, aber mit Berechnung; Begeisteruug ist gut, aber leidenschaftliche Hingebuug, Heroismus macht nicht glückselig — so geht es in Trivialitäten munter fort. Der „moderue Mensch" Carneri hat gar nichts Neues zu sagen; er will nur das alte Lebensideal ohne das alte Fundament darstellen. Das alte ist gut, erprobt; aber das ueue Fundament, das Carneri giebt, ist dünn wie Spinneweben nnd zeigt Risse an allen Ecken und Euden.
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Margunri i» Leipzig