Zur Schulrede des Kaisers
sei. Von der Überleitung des heranwachsenden Geschlechts in nene Bahnen hoffte Platv die Verwirklichung seiner sozialen Ideale, und gleich ihm Rousseau, Schiller, Goethe und Fichte. Luther verlangte, die Reformation der Kirche müsse mit den Kindern beginnen, die Hoffnung der Vaterlandsfrennde im Elsaß ist auf das heranwachsende Geschlecht gerichtet, nnd unser Kaiser erwartet von hier die wirksamste Uuterstützuug zur Bekämpfnng und Beseitigung der sozial- demokratischen Irrlehren.
Aber bestätigt denn die Geschichte so hochgespannte Hoffnnngen? Zeigt sie nicht, daß da, wo sich große Wendungen vollziehen, immer das gereifte Geschlecht deren Träger ist, daß neu erstehende Ideen zuerst das Leben gestalten und dann erst die Jugendbildnng bestimmen? Das Evangelium wurde den Erwachsenen gepredigt, später entwickelte sich dann die christliche Kinderlehre; der Hnmanismus fand in den Kreisen von Gelehrten, Künstlern, Weltmännern Pflege, dann erst eroberte er die Schulen; die Reformation gab erst der Kirche und der Gesellschaft eine veränderte Gestalt, dann erst beeinflußte sie die Stätten der Jugendbildung. Und vollzogen sich nicht die weltgeschichtlichen Veränderungen geradezu im Gegensatze zur Erziehung? Die ersten Christen hatteu eine jüdische, die Humanisten eine scholastische, die Reformatoren eine katholische Erziehung genossen. Anch in stilleren Arbeitsstätten, in der Ausbildung der Künste, der Litteratur und der Wissenschaften scheint der Einflnß der Jugendbildung auf die Entwicklung wider Erwarten gering zu sein. Große Meister erhoben sich zu ihrer Höhe ans Grund von verhältnismäßig mangelhaften Bildungsmitteln und unvollkommenen Eindrücken in der Zeit ihres Werdens.
Wenn sich anch in den angeführten Beispielen die Mächte des Lebens wie der Natur stärker erwiesen, als die Eindrücke der Jugenderziehung, so hört diese damit doch nicht auf, eiue geschichtliche Macht zu sein. Scheinen anch ihre Wirkungen von kraftvolleren Einflüssen aufgehoben zu werden, in Wahrheit bestehen sie fort, die mächtiger» Kräfte bald einschränkend, bald umbildend. Daß Luther trotz seiner revolutionären Tendenzen doch ein guter Katholik blieb, und daß sich in den spätern Jahren die Eindrücke seiner Jugenderziehung immer stärker Geltung verschafften, ist bekannt. Und daß unser großer Kanzler trotz der Umwälzungen, die nach innen und nach außen in unserm Volk und unserm Staatswesen durch ihn verursacht wordeu sind, doch eine tief konservative Natnr war und ist, daran braucht auch nur erinnert zu werden.
Die Männer des Umschwunges fußen eben unvermeidlich auf dem alten System, so oft ihre Jdeeu auch Offenbarungen gleichen mögen. Ihre Jugend- eindrttcke bleiben uicht ohne Wirkung auf ihr Denken und Handeln, wie wir das ja aufs deutlichste an der Kaiserrede wahrnehmen können. So bleibt die Erziehung bestimmend selbst bei dem Geschlecht, das der Träger einer geschichtlichen Neuerung ist.