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spinnt. Dadurch mußten sich unbedingt Längen und Wiederholungen einfinden, die entweder ermüdend wirken, oder, wo der Verfasser, seinen Fehler erkennend, das Alte mit Gewalt neu kleiden wollte, etwas Verschrobenes, Gesuchtes an sich tragen. Doch diese Schwäche, der ja immer noch eine beträchtliche Summe von Vorzügen gegenübersteht, wird ovn der Masse der Leser kaum empfunden und ist vom geschäftlichen Standpunkte des Verfassers zu verzeihen. Er beansprucht ja mit seinen Berliner Lebensbildern nicht einen Platz auf dem Parnaß und im dauernden Gedächtnis der Nachwelt zn erobern. Er will die Mitwelt auf seiner Seite haben, nnd das hat er durch keines seiner Werke offenkundiger erreicht, als durch seine Buchholzbücher.
Unter den obwaltenden Umständen ist es eine natürliche Erscheinung, daß sich Stinde mit der Zeit mehr nnd mehr daran gewöhnt hat, ans eine lebhafte Handlung in seinen Büchern zu verzichten und statt ihrer eine nm so größere Summe vvn Reflexion zu bieten. Der aufmerksame Leser hat diesen Übergang längst bemerkt; mit jedem nenen Bande der Buchholzgeschichte wurde er deutlicher. Die dichterische Erfindung wurde schwächer, das rcflektirende Beiwerk umfangreicher; nur der Humor blieb derselbe, und zwar so, daß er sich nach und nach mehr von der gemütlichen, als von der komisch wirkenden Seite geltend machte. Selbstverständlich! Denn eine Komik wie die Stindische hat eine Stütze nötig, an der sie sich festhält; sie bedarf der Handlungen und Personen, und soll sie nenes bieten, so müssen auch die Handlungen und Personen neu sein.
Das aber ist in dem neuesten Werke des Humoristen „Pienchens Brant- fahrt" uicht der Fall. Die Erfindung des Romanes ist einfach, die Charaktere kennen wir aus Stindes früheren Humoresken, wo sie als Nebenfiguren meist mehr oder weniger breit ausgeführt wurden. Und dennoch interessirt diese „Geschichte mit wenig Handlung und viel Beiwerk" mehr als die letzten Buchholzbiicher nnd steht ästhetisch über ihnen. Denn abgesehen von einer vriginellen Form der Darstellung — Stinde unterbricht den schlichten Erzählungston durch Zwischenspiele mit seinem Verleger, die die Erzählung gleichwohl fördern — erkennt mau erstens das behandelte Thema klar und scharf heraus; die Mißverhältnisse, die eine unfertige Bildung zeugt, und die Art ihres verschieden angestrebten Ausgleiches auch mit der umgebenden Welt werden deutlich veranschaulicht. Tvchter Hille, die über den Zaun, der das Gebiet ihrer Bildung ninhegt, nie hinübergeschant hat, findet den einfachsten Weg zum Glück in der Liebe zu einem ehrlichen Handwerksgesellen. Pienchen hingegen, ohne häusliche Erziehung, die Lehrerinnenprüfung hinter sich, mit einer Menge unverdauten Halbwissens auf Kosten ihrer körperlichen Gesundheit vollgepfropft, überall zwischen Thür und Angel, der Gegenstand des Spottes und der Mokanterie, von Herzen ein gutes Mädchen, wird, dem Arm des in Verzweiflung selbst gesnchten Todes entrissen, schließlich ans Barin-