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Julius Stinde
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Iulius Stinde 515

arbeitung weiterer Bühnenstücke bedürfte der ehemalige Chemiker, der schon seit Jahren den Lciborirtisch mit dem Redciktivnssessel vertauscht hatte, der Ruhe des freien Schriftstellers, denn es war ihm zugleich um die Muße und Gelegenheit zum Sammeln neuer Stvsfe für fernere Schöpfungen zu thun. Diese Gelegenheit bot sich ihm in Berlin. Während die Arbeit seiner Feder, auf humoristischen! Gebiete wenigstens, noch der dramatischen Schilderung Hamburger Gebens galt, war das beobachtende Auge bereits ausschließlich auf die neue Umgebung gerichtet. In aller Ruhe studirte Stinde, wie er es in Hamburg gethan hatte, Sprache, Sitten und Typen der Reichshauptstadt; dann aber, als er seine Zeit gekommen glaubte, faßte erfeste" zu und, dem Beispiel der vernunftlvsen Mausefalle folgend, ließ er seinen Stoff nicht eher wieder los, als bis er hergegeben hatte, was er hergeben konnte. Das Er­götzen Hnuderttauseuder au denn unvcrsieglicheu Humor seiner Werke und dazu eine reichlich sprudelnde Quelle materieller Erfolge war der Lohn.

Aber obwohl dieses geschickte Ergreifen des geeigneten Zeitpunktes für eiuen spekulativen schriftstellerirden Kaufmann oder kaufmännischen Schriftsteller, wie sich Stinde wohl scherzweise selbst genannt hat, von großer Bedeutung sein mußte, so ist doch damit eine ausreichende Erklärung für die Erfolge seiuer Schriften nicht gegeben. Die Hauptsache ist und bleibt immer die Güte der ausgebvtenen Ware; und diese schmackhaft herzurichten, gesnnde Nährstoffe durch Hinznfügen feiner und feinster Gewürze dem Käufer mundgerecht nnd begehrenswert zu machen, bedarf es auf dem Markte belletristischer Bücher beim Humoristen eines ausgesprochenen Verständnisses für den Appetit seiner Leser und vor allen Dingen des Talents, Gaumen und Zunge zu kitzeln. Dies Talent hat Stinde, es ist in Hamburg wie in Berlin zum vollen Durch­bruch gelaugt; Stinde ist Humorist im eigentlichen Sinne des Wortes.

Das beweist zunächst die komische Wirkung seiner Schriften. Lokalpossen wieHamburger Leiden,"Tante Lotte,"Die Nachtigall aus dem Bäcker­gang,"Die Familie Carstens" u. f. w. zogen seinerzeit den Hamburger Mittel­stand allabendlich vor die Bretter des Schultze-Theaters. Zu welchem Zwecke? Um einmal von ganzem Herzen lachen zu können. Und worüber lachte dieses außerordentlich dankbare Publikum? Über sein eignes, gutmütig ihm vor­gehaltenes Spiegelbild, über seiueu eignen, durch die Vorstellung auf der Bühue znm Bewußtsein gebrachte» Volkshumor. Die Stindischen Possen und Charakterstücke fesseln den Zuschauer nicht nach moderner Art durch fleisch­farbene Trikots, scharfe Pikauterien oder allerhand Zwei- und Eindeutigkeiten, sondern durch die Gesundheit ihres Humors, dessen Wesen sich wiederum nicht in einem Funkenfeuer sprühender Wortwitze knndgiebt, sondern in der durch schärfste uud zugleich liebevollste Beobachtung ermöglichten, bis ins Kleinste getreuen Zeichnung der Typen, Sitten und Eigenheiteil, wie sie sich thatsächlich uud alltäglich im Volke geben. Und dieses Talent, zu beobachten