Litteratur
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hnt, einmal eingehender zn behandeln. Der Essay über Holder giebt geradezu eine Geschichte der Beziehungen der Schwaben zur deutschen Einheitsidee in den letzten vierzig Jahren. Ohne glänzende Wirkungen anzustreben, schreibt Lang sachlich-schlicht und befriedigt durch die Gediegenheit seiner kenntnisreichen Darstellung.
Zeitfragen des christlichen Volkslebens, herausgegeben von Freiherr von Ungern- Steruburg und Pfcirrer Dietz. Heft 107 und 108. Der religiöse Wahusiun, beleuchtet von Hermann Werner, Pfarrer in Lnugeuberg, früherm Jrreugeistlicheu. Stuttgart,
Chr. Weiser, 1890
Wahusiun, so lehrt der Verfasser und erhärtet es durch diele Beispiele aus seiner eignen reichen Erfahrung nnd aus der Fachlitteratur, Wahusiun ist eine körperliche Krankheit, entweder eine Gehirnkrankheit, oder die Folge einer das Nervensystem in Mitleidenschaft ziehenden Unterleibskrankheit. Der Wahnsinn beginnt nicht mit Wahnvvrstellnngen, sondern mit Empfindungen und Stimmnngen. Eine Stimmung, die in den Lebensverhältnissen begründet ist, darf nicht als Symptom des Wahnsinns angesehen werden, mag sie sich auch noch so auffällig äußer«. Der Mensch kann äußerlich nnd geistig ganz gesund sein und sich doch wie ein Wahnsinniger geberden in Schmerz oder Freude, weil eben ein starker Anlaß dazu vorhanden ist. Entsteht aber Betrübniß oder gehobene Stimmung ohne ersichtliche Ursache, so ist das ein Zeichen von Gehirnerkrankung. Der Kraule versucht sich seine veränderte Stimmnng zu erklären, nnd so entstehen, die Wahnvorstellungen. Wenn einer von beständiger Angst geplagt wird, so bildet er sich ein, daß ihn Polizisten verfolgen oder etwas ähnliches, der unnatürlich Heitere glaubt etwa Millionär geworden zu fein. Von den Lebeusverhältnissen, vou dem gewöhnlichen Gedankenkreise des Erkrankten nehmen die Wahnvorstelluugeu ihre Färbung an. Bei einem religiösen Menschen, er branchl nicht überspannt religiös gewesen zu sei», wird daher die kraukhafte Angst die Form der Gewissensangst annehmen, die gehobene Stimmung die Einbildung erzeugen, daß er ciu Auserwählter, eiu Heiliger oder eine der drei göttlichen Personen sei. Es ist klar, daß geistlicher Zuspruch keiu geeignetes Mittel sein kann, einen solchen Kranken zu heilen. Alles, was zum Nachdenken anregt, macht die Sache uur schlimmer. „Wer arbeitet mit einer schmerzenden Hand, wer geht mit einem kranken Fuße, wer singt mit einem entzündeten Kehlkvpf?" Der Verfasser ist nicht etwa Materialist, sondern ein gläubiger Geistlicher: er hebt nicht allein unter den Ursachen der Erkrankung die geistigen und sittlichen gebührend hervor, sondern hält auch übernatürliche Erscheinungen wie die Besessenheit theoretisch für möglich. In der Praxis aber, meint er, mit Beziehung auf letztere müsse man sich doch den besondern Fall ansehen, und die in neuerer Zeit bekannt gewordenen Fälle seien alle natürlich zu erklären. Dasselbe gelte von den Spiritistengeschichten, die unsre modernen Mystiker als Fälle eines „Hereinrcigens des Jenseits" anzuführen Pflegen. Ihretwegen erinnern wir noch daran, daß ein katholischer Jrrenaustaltsgeistlicher zu Wie» — leider haben wir seinen Namen vergessen — zu demselben Ergebnis gelangt ist wie Werner. Er sagt in seinem vor etwa dreißig Jahren erschienenen Buche: „Hätte Görres längere Zeit hindurch in einer Irrenanstalt Beobachtungen angestellt, so müßte er seine Mystik entweder gar nicht oder doch ganz anders geschrieben haben." Der Wahnsinnige gehört also, auch wenn seine Wahnvorstellungen dem religiösen Gebiete entnommen sind, in die Behandlung nicht des Geistlichen, sondern des Arztes. Da aber nicht jeder solcher Kranke sofort in ein Irrenhaus aufgeuommen werden kann, sondern gewöhnlich längere Zeit bei den