Litteratur
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Lebens verdankt, wahlloser als ehedem zn verwerten. Es ist zu Zelten, als ob es ihn triebe, die groben Knrrikaturen, die an der Tagesordnung sind, mit ein paar Meisterstrichen in wirkliche Gesichter und Figuren umznwandelu; ein Zug leiser Ironie liegt über den Zügen des Vielerfahrenen, der den jüngsten Genies beweist, daß sie weder richtig sehen, noch das Gesehene erkeunbar wiedergeben können. Zur Gruppe der Berliner Geschichten, die verzerrte Schilderungen des Lebens und Treibens der Hauptstadt gleichsam lorrigiren, gehört auch die neueste Erzählung Fontanes, ein Genre- und Sittenbild nicht erquicklicher, aber geistvoller und fesselnder Art, ein Alltagserlebnis mit bedenklichem Untergrund und tragischem Ausgang.
„Stine" ist in gewissem Sinne ein Seitenstück zu des Verfassers kleinen, Roman „Irrungen -Wirrungen." Der Name ist die Berlinische Abkürzung für Eruestine, und Ernestine ist eine hübsche, junge Arbeiterin, die das zweifelhafte Glück hat, die Neigung eines jnngen Grafen Waldemnr Haldern zn gewinnen. Trotz ihrer guten Vorsätze, sich zu halten, hat sie es nur der Eigenart und der besondern Sinnesweise des jungen Mannes zn dankeu, daß sie vor den Schicksalen ihrer schönen Schwester Panline bewahrt bleibt, die als Witwe Pittelkow die unterhaltene Geliebte eines altern Grafen Haldern, des Onkels von Wnldemar, ist. Der einsiedlerisch und ohne innere Befriedigung seine Tage hinspinnende, dazu kränkliche Graf Waldemar faßt zuletzt den Entschluß, Stine zu heiraten, schlägt den Widerstand, den er bei seiner Familie findet, nicht hoch an, scheut ihn wenigstens nicht, erliegt aber der gransamen Enttäuschung, die ihm Eruestine bereitet. Denn sie schlägt es rund ab, seine Frau zn werden. „Dadurch, daß man anspruchslos sein null, ist man es noch nicht, und es ist ein ander Ding sich ein armes und einfaches Leben ausmalen oder es wirklich sichrem Und für alles, was dann fehlt, soll das Herz aufkommen. Das kaun es nicht, und mit einemmale fühlst du, wie klein und arm ich bin. Ich glaube, daß aus allein, was du vorhast, uur Unheil kommt, unr Enttäuschung und Elend. Der alte Graf ist dagegen, nud deine Elten sind dagegen nnd ich habe noch nichts zum Glück ausschlagen sehen, woranf von Anfang an kein Segen lag. Es ist gegen das vierte Gebot, und wer dagegeu handelt, der hat keine ruhige Stunde mehr, uud das Unglück zieht ihm nach."
Diese nüchterne, herbe Verständigkeit kommt aus dem Innersten von Stines Natnr, kostet aber dem armen kleinen Grafen das Leben. Er hat so wenig Sonnenschein gehabt, daß er den letzten Strahl, der ihm noch genommen wird, nicht missen kann und seinem Dnsein durch Gift ein Ende macht. Fran Pauline Pittelkow hat für ihre arme Schwester den Trost bereit: „Un bei allens is auch wieder 'n Glück. Jott, er war ja so weit janz gut, un eigentlich ein anständiger Mensch nnd nich so wie der Olle, der ans Ganze schuld is; warum hat er'n mitgebracht? Aber viel los war nich mit ihm; er war man doch miesig," Der Leser aber teilt die Empfindung, die Stines gemeine Wirtin als Chorns ausspricht: „Die wird nich wieder." Stine hat auf ihre Art Recht gehabt, als sie die thörichte Heirat ausschlug, jetzt ist sie ins Unrecht gesetzt und wird sich damit nicht abfinden können.
In, den Rahmen dieser einfachen Geschichte stellt Fontane nun eine Folge vou Szenen hinein, die von seiner genauen Kenntnis aller Untiefen nnd wunderlichen Widersprüche des Berliner Lebens zeugen. Von der Anmeldung des alten Grafen Halderu bei Frau Pauliue Pittelkow und dem Abendessen in deren Wohnnng an bis zur Rückkuuft der armen Stine von der Leichenfeier ihres kleinen Grafen werden wir vollständig in die schwüle Atmosphäre großstädtischer Not nnd großstädtischer