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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? 2
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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, nnd worin besteht er?

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kvmmenheit. Die sittliche Freiheit, d, h. die Unabhängigkeit unsrer Ent­schließungen von Begierden nnd Leidenschaften, wird durch energische Thätig­keit in der Welt gefährdet, weil gerade die Begierden und Leidenschaften die Haupttriebfederu des Handelns sind, und große Thaten selten vollbracht werden, wo nicht glühende Leidenschaften stacheln. Ohne vielseitige kraftvolle Thätig­keit aber ist die Vollkommenheit, d. h. die volle Entfaltung aller guten An­lagen, die in eiuer Persönlichkeit oder in einem Volke ruhen, nicht möglich. Demnach strebt die Freiheit dem asketischen Ideal der göttlichen Bedürfnis­losigkeit zu, während sich die Vollkommenheit nur in einer reichen Kultur verwirklichen kann. Der Herzensreiue, in dem die sittliche Freiheit ihre höchste Höhe erklimmt, ist stets bereit, seine nnd andrer Augen anözureißen und Häude abzuhauen, wenn sie zusammenwirken, jenes Schone zu, schaffen, nn dein die Kleinen so leicht Anstoß nehmen. Dürfte er Gericht halten über die sündige Welt, so würden von deu Werken der bildenden Kunst kaum die sanftgefärbten schattenhaften Gestalten der Nazareuerschule und von der schönen Litteratur außer den Kirchenhymnen vielleicht nur einige Jugendschrifteu und Lehrsprüch­lein übrig bleiben. Der vom göttlichen Wahnsinn getriebene Dichter oder Künstler aber schafft, ohne zu fragen, wie seine Werke sittlich wirken, nnd ob die Berauschung mit sinnlicher Schönheit und sinnlicher Liebe, durch die er jenen Wahnsinn unterhält, mit dem Sittengesetz vereinbar sei oder nicht. Die Thätigkeit des Künstlers ist nämlich, wie auch die des Staatsmannes oder Gelehrten oder Kaufmanns, schon an sich, abgesehen von ihrem Inhalt, sittlich zu nennen, als mühevolle und gewissenhafte Anwendung eiuer vvu Gott ver­liehenen guten Kraft.

Daß es einzeluen Mensche» gelingt, die widersprechenden sittlichen Typen in sich zn vereinigen und zur Harmonie auszugleicheu, soll nicht geleugnet werden; allein diese Glücklichen und Begnadigten werden immer Ausnahmen bleiben. Am ehesten kommen sie in mittlerer Lebenslage und bei mittlerer Begabung vor. Genie scheint ohne Einseitigkeit auch im Sittlichen nicht möglich zu seiu; eine große historische Persönlichkeit dieser Art kenne ich nicht. Am ehesten dürften noch der Apostel Panlus, der allen alles ward, und Augustiuus dem Ideal nahe kommen. In Alkibiades, der mit seiner Vollkommenheit vor­herrschend seiner Eitelkeit und seinem Eigensinn diente, überwog das Unsittliche. Alkibiades erinnert uns an zwei Grenzlinien, die den auseinanderstrebenden sittlichen Typen gezogen sind: eine innere und eine äußere. Die innere besteht in der Bcschaffeuheit der Absicht. Wo die böse oder unedle Absicht zu wirken ansängt, da hört die Sittlichkeit auf, auch wenn das Thun gut bleibt. Aber wie steht es im umgekehrten Falle? Wird böses Thun durch gute Absicht geadelt? Nimmermehr! Entschuldigt wohl, aber nicht in Gutes verwandelt! E. von Hartmann ist aufrichtig genug, zu bekennen, daß der Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel, eigentlich richtig sei, von seinem Standpunkte aus