40K
geht es fort, vom engsten Kreise der Familie bis in die weitern und weitesten Kreise des gesamten Zustandes der Nation, des Jahrhunderts, der Menschheit.
Diese Erscheinung ist so normal uud so alltäglich wie möglich. Das Geschlecht der Menschen hat seine eignen Gesetze, die ihm in Form von sittlichen Idealen bewußt werden. Das wirkliche Lebeu kaun nicht immer diese Gesetze verwirklicheil. Damit sie aber stets im Bewußtsein wach erhalten werden, ist es gut, daß die edle Jugend idealistisch ist. So lange die Welt steht, hat die Jugend gegen den jeweiligen Bestand der Gesellschaft gemurrt, bis auch sie alt wurde, mit oder ohne Verwirklichung ihrer Wünsche und Forderungen, und sich gegen die inzwischen herangewachsene neuere Jugeud zu wehreu hatte. Denu wahr zu leben, d. h. so in allen äußerlich sichtbaren Formen der Gemeinschaft zn leben, wie es den Forderungen des Gemütes entspricht, ist das tiefste und edelste Bedürfnis der Menscheunatur.
Es kommt aber immer darauf an, daß die Kritik der Jugend berechtigt uud wahrhaft schöpferisch sei, und ferner darauf, daß die Jugend nicht immer bloß Jugend bleibe, sich nicht immer mit der Verneinung dessen, was da ist, begnüge, sondern auch klar erkenne, was sie will, das Ideal wesenhaft vor Angcn habe. Dann allein ist diese Jugend etwas wert. Wenn nicht, so versinkt sie in trostlosen und uufruchtbareu Weltschmerz oder in dieselbe Philisterei, die sie eben bei ihrem Eintritt ins nationale Leben bekämpft. Zwei Geschlechter von denen, die uns zunächst liegen, haben ihre Ideale, jedes in seiner Art, verwirklichen können: das von 1750, die Zeitgenossen Goethes und Schillers, und das von etwa 1830, die Achtundvierziger. Das eine stellte das Ideal der deutschen Bildung und Humanität ans, das heute noch gilt; das andre das Ideal der deutschen Einheit, desseu Verwirklichung es erlebt hat. Beide zeichnen sich durch einen frischen, freudigen Charakter aus. Dazwischen stehen Geschlechter des Weltschmerzes, der Enttäuschung. Ob das Geschlecht, das nach den Achtnudvierzigern gekommen ist, dem erstgenannten oder dem andern nachgeraten wird, ist noch gar nicht zn entscheiden. Viel Vertrauen nnf die schöpferische Begabung dieser Jugend haben wir bisher noch nicht gewinnen können.
Auch Hermann Sudermanns Erzählungen*) wurzeln sämtlich in jenem ursprünglichen Erlebnis jedes begabteren Mannes, und daß man es ihnen lebhaft nachfühlt, ist kein geringes Zeichen seiner dichterischen Begabung. Dieser Mmm — so empfindet man, nachdem man ihn kennen gelernt hat — macht keine Mode äußerlich mit, er schließt sich nicht einer vorhandenen litterarischen oder politischen Partei an, er folgt einem ursprünglichen Dränge seiner Natur.
*) Frau Sorge. Roman. Dritte Auflage. — Der Katzensteg. Noincm. Dritte Auflage. — Geschwister. Zwei Novellen. Zweite Auflage. — Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. Fünfte Auslage. Sämtlich im Verlage von I. und P. Lehnmnn in Berlin, 1390.