Beitrag 
Die Sozialdemokratie und das Theater
Seite
323
Einzelbild herunterladen
 

Die Sozialdemokratie und das Theater

Vorbesprechung am 8. August iu einer zweiten vvn mehr als zweitausend Persvnen besuchten Versammlung die Gründung einerFreie» Volksbühne" beschlossen, in der n. a. der svzialdemokratische Grundsatz der Gleichberechtigung dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Plätze eine Stunde vor Beginn der Vorstellung verlost werden, d. h. daß jeder Besucher sich seine Eintrittskarte aus einer Urne herauszieht. Mnu darf diese Gründung als deu ersten Vorstoß in dem Kampfe betrachte«, den die Svzialdemokrntie nach dem 1. Oktober auf ihrer ganzen Linie eröffnen wird, und sie hat mit uicht ge­ringem taktischen Geschick für diese erste Kraftprobe eiu Gebiet gewählt, auf dem mau deu sozialdemvkratischeu Bestrebungen noch ein ästhetisches oder moralisches Mäutelchen umhängen kann. Wenn man in den Zeitnugsberichten über die Versammlung vom 8. August liest, mit welchem Eifer, mit welchem Aufwand vvn sittlicher Entrüstung gegen den Unfug gedonnert wurde, der auf der Mehrzahl der Berliner Bühnen mit zuchtlosen Operetten, Possen nnd Schwänken getrieben wird, konnte ein Leser, der mit den in Frage kommenden Personen und Verhältnisse« nicht vertraut ist, leicht zu dem Glauben verführt werden, daß hier wirklich ideale, uueigeuuützige Absichten einen festen Kern zu gewinnen anfinge«. Aber die Begründer derFreien Volksbühne" sind noch zu ungeübte Schauspieler, als daß sie ihre Masken lange Zeit ohne Unbe­hagen zu tragen vermochten, und überdies hat der ihnen Beifall klatschende Chorus dafür gesorgt, daß der wahre Charakter derFreien Volksbühne" noch vor Ablauf der Versammlung rechtzeitig enthüllt wurde. Am Schluß wurde nämlich eine Tellersammlung zn Gunsten der streikenden Sozialdemo- kraten in Hamburg angeregt, deren Ausführung nur an dem Widerspruch der die Versammlung überwachende« Polizeibeamten scheiterte, und als man aus­einanderging, wurden Hochs ans dieFreie Volksbühne" und die internationale Sozialdemokratie ausgebracht und mit Jubel aufgenommeu.

DieFreie Volksbühne" ist damit als ein unter dem Schutze der inter­nationalen Sozialdemokratie stehende und von ihr beeinflußte oder doch von ihr unterstützte Gründung gekennzeichnet, auf deren Früchte man gespannt sein konnte, wenn nicht das in der Versammlung bekannt gemachte Programm jede Überraschung ausschlösse. Man hat bisher zur Aufführung folgende Stücke in Aussicht genommen:Gespenster" nndDer Volksfeind" von Ibsen, die Macht der Finsternis" von Tolstoi,Vor Sonnenaufgang" von Gerhart Hauptmann,Familie Selicke" von Holz und Schlaf,Dantvns Tod" von Büchner undTherese Raquin" von Zola, also zum größten Teile dieselben Schauspiele, die in dem unter der Leitnng des Herrn Dr. Otto Brahm stehenden VereinFreie Bühne" im Laufe der verflossenen Spielzeit aufgeführt worden sind und dort teils zu den widerlichsten Skandalszenen Veranlassung gegeben, teils die Bereiusmitglieder, was ihnen noch schmerzlicher war, in unerträglicher Weise gelangweilt haben. Wir glauben, daß selbst die vielgerühmte Disziplin