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Maßgebliches und Unmaßgebliches
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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Man rang nach einer neuen Lebensauffassung und nach einer neuen Fvrm und glaubte sie im Naturalismus gefunden zu haben; man überschlug sich in dieser Richtung, aber mau blieb originell; man verrannte sich, aber man bewies eine unerschöpfliche Produktionskrnft nnd sah mit Erstaunen uud Befriedigung, daß alle Nationen denselben Weg nachliefen, obwohl über sie jene unheilvollen Ereignisse gar nicht hereingebrochen waren. Die französischen Naturalisten knüpfen fast alle an den letzten Krieg an; in der Novellensammlung I»s koirßs» Äs Nüclan kommt kaum eine Geschichte vor, die ihn nicht zum Hintergründe gewählt hätte. Zola schließt fast in allen Teilen aus dem Nvmaneyklus I^ss Rougon-Na.eczrca.rt mit einer Perspektive auf den deutsch-französischen Krieg. Maupassant verdankt feinen früh erworbenen Ruhm hauptsächlich den kleinen, mit köstlichem Humor geschriebenen Ge­schichten aus jener Begebenheit, durch die gleichsam die letzten Reste der Romantik in der französischen Litteratur zu Grunde gingen. Fiir diese Wendung und für den Eindruck, den Frankreich damals auf hervorragende Geister machte, ist nichts be- zeichneuder als die Briefe, die der gefeierte Romanschriftsteller Gustave Flaubert an George Sand in jener Zeit schrieb, und die Maupassant in einer Sammlung i^Paris, Charpeutier u. Co., 1889) herausgegeben hat.

Flaubert lebte nur seiner Kunst; er haßte den Bourgeois, der für litterarische Bestrebungen kein Interesse uud Verstnudnis zeigte; er haßte die Politik, weil sie die Menschen zu geistlosen Schwätzern heranbildete, er haßte die Kritiker, die sich ohne Beruf auf dem Parnaß breit machten, er war ein einsamer Mann, seine einzigen Freunde, zu denen er sich freimütig aussprach, waren Turgenjew und George Sand; uud doch hatte er ein klares Urteil über Frankreichs Lage und eine sichere Kenntnis von den Stimmungen und Schwächen des Volkes. Schon im Jahre 1307 schrieb er an George Sand:Frankreich, das manchmal, wie unter Karl VI., vom Veitstanz ergriffen wird, scheint jetzt an einer Lähmnng des Gehirns zu leiden. Man ist ans Furcht blödsinnig geworden: aus Furcht vor Preußen, vor den Arbeitseinstellungen, vor der Weltausstellung, die nicht vorwärts kommt, aus Furcht vor allem. Man muß bis ins Jahr 1849 zurückgehen, nm einen solchen Grad von Krctinismns wiederzufinden. Bei der letzten Gesellschaft hat mau solche Kutscheruuterhältuug gepflogen, daß ich im Innern geschworen habe, den Fuß nicht wieder dorthin zu setzen. Es war die ganze Zeit nur die Rede vvn Bismarck und von Luxemburg; nur steckt das noch in den Gliedern!" Flaubert hatte im Jahre 1869 seinen Roman I/6<Iuo»tion ssutinivirwlo veröffentlicht und damit in der französischen Kritik einen wahren Sturm der Entrüstung und des Beifalls heraufbeschworen. Er wandte sich von der realistischen Richtung weg uud versenkte sich in philosophische, religiöse und mystische Norstudien zu seinem selt­samen Roman I^i. ^vntntion, <In >Ä'm,t ^ntnino. Da riß ihn das ansprechende Kriegsgeschrei seiner Landsleute aus seiner beschaulichen Thätigkeit.Die Thorheit meiner Landsleute, schreibt er an seine Freundin, thut mir weh und ekelt mich an. Die unheilbare Barbarei der Menschheit erfüllt mich mit düsterer Traurigkeit. Diese Begeisterung, die keine Idee als Beweggrund hat, erweckt in mir Todes­sehnsucht, um nichts mehr zu sehen. Der gute Franzvse will sich schlagen: erstens, Weil er sich von Preußen gereizt glaubt, zweitens, weil der natürliche Zustand der Menschen die bestialische Wildheit ist: drittens, weil der Krieg einen mystischen Zauber in sich birgt, der die große Masse fortreißt. Sind wir wieder zu den Rassenkriegen zurückgekehrt? Ich befürchte es. Die entsetzliche Schlächterei, die sich vorbereitet, hat nicht einmal einen Vorwand; es ist die Lust, sich zu schlagen, nur um zu schlagen. Ich beweine die gesprengten Brücken, die zerstörten Tunnel, diese