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Wirkung der peinlichen Überraschung üben, weil sie nicht mehr überboten werden können. Nicht die Engherzigkeit von akademischen Behörden nnd Kunstausstellungsjuroren, nicht die Verstündnislosigkeit des Publikums, nicht die Voreingenommenheit der gegnerischen Kritik haben der „neuen Kunst" den Boden des Wachstums und des Gedeihens entzogen, sondern sie selbst hat ihre Gedanken- nnd Formenarmut in so abschreckender Blöße gezeigt, daß daneben alle andern feindlichen Strömungen von untergeordneter Wirkung waren. Auch die religiöse Richtung dieser Malerei ist einem Irrwahn uachgegangcn, indem sie die oben angedeutete Mission übernahm. Mit der christlichen Religion halteu es die Führer und Wühler der Sozialdemokratie gerade so wie mit allen andern Grundpfeilern unsers Staatswesens: sie wollen den alten Most nicht, auch weuu er iu funkelnagelneue Schläuche gefüllt ist, sie Wolleu den Heiland nicht, anch wenn er in noch so zerlumptem Aufzuge, in noch so mitleiderregender Gestalt vor sie uud mitten unter sie tritt.
Man würde die naturalistische Episode iu unsrer neuern Malerei günstiger beurteilen, wenn sie wenigstens eine heilsame Rückwirkung ausübte, wenn sie unsre Kunst von der Notwendigkeit überzeugte, daß innerhalb der staunenswert ausgebildeten Form auch der geistige Inhalt wieder zu seinem Rechte gelangen muß, daß der denkende Künstler noch einmal so viel wert ist, als der, der nur aus dem Handgelenk schafft. Wir, die wir eben erst zur Geduld gemahnt haben, dürfen diesen Umschlag nicht von morgen oder übermorgen erwarten. Aber wir dürfen uns auch durch die Wahrnehmung nicht entmutigen lassen, daß die Berliner Kunstausstellung, die die Grundlage zu unsern Betrachtungen geliefert hat, ein so trübseliges Bild von dem gegenwärtigen Zustande eines Teils der deutscheu Malerei darbietet. Daß dieses Bild uur so wenig lichte Punkte aufzuweisen hat, ist nur zum Teil auf die innern Ursachen zurückzuführen, die wir iu kurzen Zügen augedeutet haben, zum Teil auch auf die mangelhafte Organisation des Berliner Kunstnnsstellungswcseus, die es nicht vermocht hat, Kunstwerke von grvßerm Wert aus allen Teilen Deutschlands heranzuziehen. Der Münchner Ausstellung gebührt in diesem Jahre ein größeres Maß von Autorität, und nach ihrem Ergebnis wird man die Eindrücke zn regeln oder zu berichtigen haben, die die Berliner Ausstellung hervorgerufeu hat.