Bedenken über die Sprachverbessernng
N'ie man ans ihrer Skulptur sieht, beizeiten die Fesseln ihrer orientalische» Schulmeister gesprengt und höchste Bildung mit reiner Natnr vermählt. Ein zweitesmal ist die europäische Menschheit zur Natur zurückgekehrt, als die Deuk-, Kunst- und Kirchenformen, die Windeln und Schienen, in denen das Kindlein herangewachsen war, in der Renaisscmee und Reformation von den kräftig entwickelten Gliedern abgestoßen wurden. Und die Sehnsucht uach einer Wiedergeburt unsrer schönen nnd lieben deutschen Sprache, die sich heute iu den Herzen so vieler verständigen und patriotischen Männer regt, sie ist nur eine besondre Äußerung des allgemeineren Bedürfnisses, die Natur vor all den Moden, amtlichen nnd konveutiouelleu Formen, den Menschenverstand vor dein Übermaß unsrer Gelehrsamkeit und aus der zersplitterten Facharbeit die Einheit des ungeteilten, nnverstümmelten, nnverhnnzten Menschen zu retten. Ein Gliick noch, daß wir wenigstens nicht in Gefahr schweben, gleich den Chinesen zn erstarren, da wissenschaftliche, konfessionelle, politische und soziale Kämpfe nns beständig in Atem nnd auf den Beinen erhalten.
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Daß die Schule für unsre Muttersprache mehr thun sollte, als sie thut, darin bin ich mit dem Verfasser der „Sprachdummheiten" einig; aber in Beziehung auf die Art und Weise, wie sie es thun sollte, stimme ich mit ihm nicht ganz überein. Grammatischen Unterricht halte ich nicht nur nicht für notwendig, svndern geradezu für schädlich und gefährlich. Die grammatifchc Behandlung einer Sprache bedeutet ihre Sektion, und sezirt werden nur Leichname. Wenn die bessern Geister eines Volkes fühlen, daß sie die Kraft verloren haben, selbst gut zu sprechen nnd zu schreiben, dann fangen sie au, die Meisterwerke ihrer Sprache zu zergliedern und daran den Bau und die Gesetze dieser Sprache zu erforschen; die Verlorne Kraft gewinnen sie dadurch nicht wieder. Als Aristoteles die Wissenschaft der Grammatik erfnud, war die gvldne Zeit der griechischen Litteratnr vorüber, und die fleißigen Grammatiker Alexandriens haben keine zweite heraufgeführt. So ist die Sache bei allen übrigeu Kulturvölkern verlaufen. Wir Deutschen haben uns zweier klassischen Perioden zu erfreue«, aber beide sind ohne Beihilfe, ja ohne Kenntnis der deutschen Grammatik aus dem gährenden Volksgeiste emporgestiegen, nnd wenn nnser Volk eine dritte erleben soll, dann — scheint es mir — muß es vvrher die deutsche Grammatik vergessen, die es nach Ablauf der zweiten aus den Meisterwerken seiner Dichter, Erzähler nnd Denker hercmsdestillirt hat. Von den größten Dichtern und Prosaisten aller Völker hat keiner die Grammatik seiner Muttersprache stndirt. Homer hatte keine Ahnnug vv» einer solchen Wissenschaft, und auch Sophokles und Plato konnten noch keinen Unterricht darin empfangen. Wie hätte im dreizehnten Jahrhundert jemand auf den Gedanken verfallen können, italienische Grammatck zn lehren? Trug doch