Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen
^. Aus der Geschichte unsrer Sitte, zugleich zur Fortschrittsfrage
uf die Frage, ob es in menschlichen Dingen ein wirkliches Fortschreiten im Guten giebt, an dem man bei allem nußern Fortschritt zu Zeiten recht irre werden kann, giebt es nach meiner Erfahrung ganz sichere bejahende Antworten in der Geschichte unsrer Sitte, wenn es möglich wird, größere Zeiträume zusammenzunehmen. Da klingt wohl ein Ja ja! mit Posaunenton heraus. Ich verbuche, es da einmal erklingen zu lassen.
1. Das Hutabnehmen
Das Hntabnehmen vor dem andern ist uns jetzt wesentlich ein Zeichen der Höflichkeit und ist das schon seit Jahrhunderten. Aber nicht vom Ursprung her, und auch jetzt noch geht hie und da seine Bedeutung über den Begriff der Höflichkeit hinaus. So zum Beispiel iu der Kirche. Niemand wird eine Kirche betreteu, wenn auch ganz allein darin, ohne die Regung, den Kopf zu entblößen, selbst wenn kühle Luft wäre. Mir kam die ganze Frage einmal vor langen Jahren in der Kirche. Ich war eine geraume Zeit vor dem Be- gnm des Gottesdienstes gekommen. Da kommt in dem hohen heiligen Raume über die Seele eine schöne Muße zu mancherlei Gedcmkeu, zu denen sie sonst "U'hr Zeit findet. So fiel mir damals auf, was ich schon so oft gesehen hatte, u»d es war mir nie aufgefallen, wie die kommenden Kirchgänger den Hut feierlich abnahmen, die Männer, aber nicht die Frauen. Warum nur jene? und diese nicht? Auch die Frauen, wenn sie in Gesellschaft gehen, setzen doch dort den Hut ab und behalten ihn nur auf, wenn der Besuch ein kurzer sein soll. Bei den Juden bringt die kirchliche Sitte das gerade Entgegengesetzte mit sich, dnß man im Tempel den Kopf bedeckt läßt. Was hat also das Entblößen des Hauptes für eigentlichen Sinn? Es wurde mir immer fraglicher, und ich fand auch nicht, daß jemaud sonst darauf achtete. Da kam die Aufklärung aus dem Mittelalter, aus dem Rechtsleben. Nun sprach ich davon, und da kam auch von Freunden Beisteuer zu weiterer Aufhellung.
In dem wichtigen Nechtsbuche unfers Mittelalters, dem Sachsenspiegel, steht im Lehnrecht im siebenundsechzigsten Artikel eine Bestimmung für das Ver-