Die deutsche Arbeitergesetzgebung
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bald bemerken können, daß in einzelnen Fällen die Eltern ihre Kinder nicht mehr den öffentlichen Schulen anvertrauen werden, sondern ihnen eine ganz freie Erziehung nach ihren, der Eltern, Neigungen geben werden. Dann wird es dahin kommen, daß einzelne ganz freie Schulen gegründet werden, in denen mit neuen Erziehungsgedanken nach dieser oder jener Richtung hin Versuche angestellt werden. Alles das ist solange verdienstvoll, als dadurch Erfahrungen, Beispiele für den künftigen Weg der Gesamtheit auf diesem Gebiete gewonnen werden. Dann aber wird es Zeit, diese selbst in Bewegung zn setzen. Wollte man die vorübergehende Ablösung der Einzelnen und ihr selbständige Wirksamkeit als die Regel betrachte» und darauf hinwirken, daß es immer so bliebe, so würde man dadurch nur eine Unzahl von Schrullen ins Leben rufen und die Übelstände in keiner Weise beseitigen. Dies kann nur geschehe», wenn nach einiger Zeit der ungehinderten Entwicklung der Einzelkräfte die Gesamtheit zu arbeite» beginnt. Dieser Zeitpunkt war für das deutsche Arbeiterwesen schon lange eingetreten, ehe an die Aufstellung der Arbciterversicherungsgesetze gegangen wurde. Die Arbeiter empfanden damals mit Recht die mildthätige Fürsorge einzelner, hierin sreiwilliger, Arbeitgeber als eine Demütigung der Persönlichkeit des Arbeiters; sie wollten nicht der Gegenstand der gnädigen Vorsehung eines Mitmenschen sein, dem sie doch nicht so weit an Bildung nachstanden, daß dieses Verhältnis eine Berechtigung gehabt hätte. Die Mildthätigkeit, die göttliche Vorsehung spielen will, ist höchst gefährlich für die gesellschaftliche Entwicklung. Man soll nicht die Schäden in der Gesellschaft dadurch verdecke», daß man in wemerlicher Weichlichkeit und zuweilen nur zn eitler Selbstbespiegelnug dort in ganz unvollkommner Weise eingreift, wo nur ein allgemeines Vorgehen helfen kann; man möchte zuweilen wünschen, daß mildthätige Vereine, die durch ihre schwächlichen Beihilfen die Verkümmerung der Unterstützten nnd die Frömmelei der Unterstützenden znr Folge haben, je eher je lieber untergingen. Es giebt nichts Kläglicheres als die rührselige Stelle in einem Romane von Dickens, wo für die Witwe und die Waisen eines verunglückten Hafenarbeiters von gänzlich unbeteiligten Menschenfreunden eine unzureichende Summe gesammelt wird.
Diese elenden Halbheiten haben es dahin gebracht, daß die Arbeit, die in der deutschen Arbeitergesetzgebnng geleistet ist, vielfach nicht in ihrem wahren Werte gewürdigt wird. Wir sehen hier ganz dasselbe Bornrteil, wie es bis vor kurzem, in gewissen Bevölkerungsschichten auch jetzt noch, gegenüber allen Einrichtungen des' öffentlichen Lebens bestand, von denen ja die Einrichtungen der Arbeitergesetzgebnng nur einen Teil bilden. Man giebt es zwar gern zn, daß die Pflichten, die der Staat von dein Einzelnen fordert, gut und trefflich seien, hält aber trotzdem die Einrichtungen, die znr Durchführung dieser Pflichten geschaffeu sind, nur für ein notwendiges Übel. Die Pflicht der Landesverteidigung, der Beschützung des Vaterlandes, ist jedem geläufig, den-