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Die Krankheit des Jahrhunderts.
davon peinlich betroffen, was auch einem andern anständigen jungen Manne widerfahren könnte. Denn Doktor Eynhardt besitzt zwar ein Haus in Berlin, dessen Zinserträgnisse ihm eine beneidenswerte, für ihn leider verhängnisvolle Unabhängigkeit verleihen, aber er ist weder reich im heutigen Wortsinne, noch wünscht er es zu werden. Daher kann es nicht fehlen, daß die Sommerblütc seiner Liebe in Berlin alsbald welkt. Denn im Hause der Ellrichs herrscheu alle Eitelkeiten der alltäglichen Welt, uud Doktor Eynhardt fehlt es so sehr an allein einfachen Billigkeitsgefühl, daß er in frohen Menschen auf der Stelle verächtliche Menschen sieht, die wieder zur Tierheit herabgesunkeu sind. Er entdeckt rasch, daß seine Geliebte mit allem Liebreiz ihrer Jugend „nie ein Wort der Erhebung, nie einen weiten, allgemeinen Gedanken" hegt, er fragt natürlich nicht, ob sie ein gesundes, warmes Herz hat, ob sie weiblich opferfähig und bildungsfähig ist, sondern er grübelt über ihr Bedürfnis nach dem Schein und nach Äußerlichkeiten, welche ihm sehr unerquicklich erscheinen. Darüber bricht der Krieg von 1870 aus, in welchem er sich in seiner Weise auszeichnet, sich allerdings weigert, für eine verlorene Fahne sein Leben aufs Spiel zu setzen, auch in mancher andern Beziehung lein schneidiger Neserveleutnant ist, dafür aber mutvoll und aufopfernd Verwundete rettet und deu gefährlichsten Vorpostcu mit besondrer Vorliebe übernimmt. Er hebt aber freilich die Wirkung davon wieder auf, iudem er seinen Grundsätze!? getreu das eiserne Kreuz zurückweist. Daß die große Mehrzahl seiner Kameraden und militärischen Vorgesetzten hierin eine Überhebuug, eine unzulässige Herausforderung ihrer Meinung erblicken muß, könnte Doktor Eynhardt im voraus wissen und brauchte also nicht aus den Wolken zu fallen, daß ein hochnäsiger Mann von Gardeofsizier, wie es ja dergleichen giebt, dem er bei Fräulein Ellrich im Wege ist, ihn frech beleidigt. Er entschließt sich, den Vorurteilen aller seiner Umgebung zu trotzen, den Beleidiger nicht zu fordern, sondern als dieser mit einer Forderung anrückt, jedes Duell zu verweigern. Er erklärt: „In den Krieg ziehe ich, weil die Staats- gesetzc mich dazu zwingen. Ich kann diese Gesetze mit meinen schwachen Kräften bekämpfen, ich kann mich bemühen, ihre Änderung herbeizuführen, aber so lange sie bestehen, muß ich mich ihnen unterwerfen oder auswandern oder einen Selbstmord begehen. Wäre das Duell durch ein Gesetz vorgeschrieben, ich würde mich auch duelliren. Das Gesetz verbietet es aber gerade, und meine Anschauungen sind mit dem Gesetz im Einklang." Es kommt dem Denker hier nicht bei, daß das Gesetz der Sitte, den gesellschaftlichen Zuständen uud Notwendigkeiten vorausgeeilt sein kann, und daß er in andern Fällen aus Mitleid, aus Billigkeitsgefühl sich auch über die bloßen Gesetzcsbuchstaben hinaussetzen würde. Er wird der Märtyrer seiuer Überzeugung und mit einfachem Abschied als Reserveoffizier entlassen. Der Bruch mit Lulu Ellrich, innerlich schon längst eingetreten, erfolgt damit auch äußerlich. Er ist in jedem Betracht wieder frei, wie er vorher gewesen ist. Die verscherzte Achtung gewisser Lebcnslreise