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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen : 9. Wie Wahr und Gut zusammenhängen.
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Tazebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

Auf einem würde z. B. ein Giebel nicht sichtbar sein, den ein andres zeigte, würde dafür das entsprechende Dach sehen lassen, das jenem fehlte. Auf wieder einem würde der kleine Turm fehlen, hinter dem Hauptturm versteckt. Diesen zwar, der alles hoch überragt, würden alle wesentlich gleich zeigen, aber doch auch mit Unterschieden, z. B. die Fenster an verschiedner Stelle oder nicht alle. Ich habe mir das manchmal so ausgemalt in müßigen Stunden, mit tröstlichem Behagen, weun es wieder einmal galt, sich in der grellen Verschiedenheit der Meinungen und Ansichten der Menschen über denselben Gegenstand zurecht zu finden. Dort steht das Schloß so sicher sür sich, jeder Stein fest, in stolzer Ruhe und Unberührtheit seit Jahrhunderten, und hier im Menschenauge und Menschensinn erscheint es so wechselnd, so beweglich, so streitig unter Uniständen. Denn bei Mißtrauen und üblem Willen kann wirklich Zweifel nnd Streit auftauchen, ob der eine Beschauer richtig gesehen und gezeichnet habe, wenn der andre nicht darauf eingehen mag, auf den Standpunkt von jenem zu treten. Das Ganze aber, wie es ist, sieht doch keiner und zeigt kein Bild, nur ab­weichende Erscheinungen. Auch denken kann sich keiner das Ganze, wie es ist, immer erscheint ihm auch in den Gedanken nur eiue bestimmte, einseitige Auf­fassung, allenfalls mehrere nach einander, die man mit Denken über das Sehen hinaus wohl zusammenzufassen versuchen mag, man kommt aber über ein be­stimmtes Sehen doch auch dabei nicht hinaus. So beschränkt in seinem Erfassen und Erkennen ist der Einzelne einer Sache gegenüber, die bei aller Einheit in sich doch Mannichfaltigkeit nach außen zeigt, wie wichtigere Weltdinge allemal, am meisten die Welt selber.

Was mir aber bei solcher wiederholten Betrachtung das Wertvollste und Merkwürdigste wurde, war das, daß sie schließlich immer auf einen Punkt führte, wo sich die Frage nach dem gesuchten Wahren von selbst aufs sittliche Gebiet hinüberspielte und auf ihm erst ihr beruhigendes Ende fand; das Gute mußte dem Wahren helfen und sproßte zugleich aus ihm. Das kommt von jener Beschränktheit des Einzelnen jeder Frage gegenüber, deren Antwort nicht auf der Oberfläche liegt. Es handelt sich da immer um ein Ganzes, ein kleines oder großes, oder doch um eiue Frage, die in einen Zusammenhang eingreift, also einem Ganzen angehört, vielleicht gar dem letzten Ganzen, dessen Dasein ja überall in der Nähe zu spüren ist. Ein Ganzes kann aber sozusagen nur von einem Ganzen erfaßt oder umfaßt werden, das ist aber der Einzelne nie, obschon er sich leicht in gehobenen Stunden als solches fühlt; die Berich­tigung solches Selbstgefühls bleibt nicht aus und ist bitter genug. Man er­fährt es ja früh, in den Jahren, wo sich zuerst die Flügel des eignen Denkens über die Welt frei regen, daß man eine Wahrheit gefunden zu haben glaubt und sich gedrängt fühlt, sie einem Freunde mitzuteilen, daß man aber da selten oder nie die ganze Zustimmung findet, ans die man sicher gerechnet hatte, vielleicht selbst scharfen Widerspruch, zumal wenn der Andre schon eine eigne Ansicht von