Beitrag 
Literatur.
Seite
199
Einzelbild herunterladen
 

Literatur.

199

Dem entgegen stellt Dilthey, der Pvsitivist, den Satz auf:Das Genie ist keine Pathologische Erscheinung, sondern der gesunde, der vollkommene Mensch" (S. 13). Und er beweist dies, indem er die wesentlichen Merkmale der unfreien Phantasie im Halluciuirenden, im Hypnotisirten, im Träumenden, im Wahnsinnigen psychologisch und Physiologisch anführt, und ihnen die symbolisirende, beseelende, vom Gefühl gelenkte und das Gefühl erregende, ihres Spieles jedoch sich bewußt bleibende Phantasie der Dichter gegenüberstellt. Am wertvollsten in diesem Essay ist die psychologische Charakteristik der dichterischen Einbildungskraft, wertvoll deswegen, weil sie zugleich die Keime einer Aesthetik enthält, die im Geiste Diltheys wohl schon feststehen mag, die aber bei seiner langsamen Art zu produziren wohl ebenso­lange ans sich warten lassen wird, wie der zweite Band seiner Schleiermacher­biographie und die Fortsetzung seiner höchst anregendenEinleitung in die Geistes- wisscnschaften." Sätze wie die folgenden:Dem gewöhnlichen Menschen sind seine Wahrnehmungen Zeichen für etwas, das in der Richtung feiner Absichten eine be­stimmte Stelle einnimmt; dagegen das künstlerische Genie gleicht einem Reisenden, der sich den Bildern eines fremden Landes hingicbt, ohne Absichten, ohne Berechnung, in völliger Freiheit. Ein dunkler Reichtum treibt es, den ganzen Reichtum des Lebeus mit allen Organen zu erfassen" (S. 19); oder:Die Bilder entfalten sich in dem Dichter frei von dem Zwange des Wirklichen, nach dem Gesetz, eine möglichst voll­ständige und dauernde Befriedigung der Gefühle zu gewähren. Im wirklichen Leben wechseln unruhig Begehren und Genuß; das Glück ist nur ein flüchtiger Silberblick desselben; dagegen atmen die großen Kunstwerke eine Ruhe, die sieder Zeit entnimmt, weil sie immer neu den zurückkehrenden Betrachter mit totaler Be­friedigung erfüllen. Dies ist das einzige wesentliche Merkmal der Schönheit" (S. 22) solche Sätze sind Keime einer Aesthetik, nnd zwar keiner formalistischen nach Herbarts Schule. Dilthey, der Liebhaber uud Psychologe vou Dickens, ist denn auch kein Verehrer gerade der modernen Realisten zufolge feiner ganzen psycholo­gischen Anschauung von Poesie. Höchst interessant sind die mitgeteilten Selbst­beobachtungen der Dichter aus allen europäischen Literaturen, und es scheint uns literarhistorisch bemerkenswert, daß, vielleicht zum ersteumale in einer deutschen philosophischen Studie, hier auch das Zeugnis eines russischen Dichters, des seiner Zeit auch iu diesem Blatte besprochenen Goutscharow, angeführt wird. So treten die Russen durch die Uebersetzer in die Weltliteratur.

Zeugnisse und Proteste. Gesammelte Aufsätze über tragische Kunst. Von Dr. Georg Günther, Professor. Erste Reihe. Plauen, F. E. Ncupert, 1887.

Die Schopenhcmersche Philosophie hat nicht zum geringsten Teile ihre Ver­breitung der großen Wertschätzung zu verdanken, die sie den verschiednen Künsten zu Teil werden ließ. In dem Systeme des pessimistischen Atheismus gewann der Kultus der Kunst, ebenso wie in dem materialistischen Glaubensbekenntnis von David Strauß (Alter und neuer Glaube), den Rang einer neueu Religion. Eine selbständige Aesthetik hat Schopenhauer so wenig wie sein Antipode Herbart ge­schrieben; aber die vielen gelegentlichen Exknrse zur Kunst haben die Jünger des Philosophen (Bahnsen, Siebenlist, H. Klee, Ed. v. Hartmann) zu zusammen­hängenden Systemen auszuarbeiten versucht, und die pessimistische Aesthetik, die Hand in Hand mit der literarischen Mode des Realismus geht, ist eine der jüngsten philosophischen Errungenschaften, die nicht eben zur Hebung des schwer geschädigten Ansehens der Philosophie beigetragen hat. Gegen diese pessimistische Aesthetik sind die oben genannten, mit meisterhafter Dialektik geschriebenen Aufsätze über tragische