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Karl Friedrich Bahrdt.
daß es nicht eigentlich „schwarze Bosheit eines heuchlerischen Herzens" gewesen sei, vielmehr sei die Erklärung wohl in Folgendem zu suchen: Semler, der durch den „Verlust seines Applausus" in Verlegenheit geraten sei, habe den Plan gefaßt, durch die ueu angenommene Maske der Orthodoxie sich wieder Kredit zu verschaffen; in diesem Vorhaben habe ihn Bahrdt gestört und daher komme plötzlich die „schmähsüchtige Intoleranz" des großen Mannes, der sich nun durch Verdächtigungen und Verfolgungen an dem „unglücklichen" Bahrdt räche. Uud es war doch in diesem selben Almanach schwarz auf weiß zu lesen, was eigentlich dieser Bahrdt für ein bedeutender nnd vortrefflicher Mann sei. Denn er selbst bezeugte sich hier feierlich, daß er „einer unsrer hellsten Köpfe und arbeitsamsten Gelehrten," ein „Genie vom ersten Nange" und dazu ein Mann mit einem wohlwollenden und menschenfreundlichen Herzen sei, und schloß mit der Versicherung, ein richtiges Urteil „über diesen in allem Betracht merkwürdigen Menschen" werde erst die Nachwelt zu sälleu imstande sein.
Noch ein zweites Pamphlet erregte über die theologischen Kreise hinaus vorübergehendes Aussehen. Am 19. Mai 1786 war in Hamburg der Haupt- Pastor Goeze gestorben, und flugs schrieb Bahrdt seine „Standrede am Sarge des weiland .Hochwürdigen und Hochgelahrten Herrn Johann Melchior Goeze, gehalten von dem Kanonikus Ziegra"'^) — in welcher er den schon bei Lebzeiten genug verhöhnten streitbaren Mann aufs unwürdigste verspottete. Den bereits 1778 gestorbenen, als Goezes Kampfgenossen und Herausgeber der berüchtigten „Schwarzen Zeitung" bekannten Kanonikus Ziegrci, den er hier aus dem Reiche der Tvteu zitirte, um seinem Amtsbruder die Leichenrede zu halten, hatte er selbst im Kirchen- und Ketzeralmanach als „anerkannten und gebornen Schafskopf" charakterisirt, „in dessen Hirnschale man nach seinem Tode nichts als Wasser, in seinem Leibe aber einen außerordentlich großen Magen gefunden habe"; schou dies allein genügt, um Ton und Richtung jenes unsauberen Pamphlets gebührend zn kennzeichnen. Zwar versicherte Bahrdt später, es sei nicht seine Absicht gewesen, den Mann zu beschimpfen, sondern nur, die ganze orthodoxe Partei einmal zu necken und die Lacher gegen sie aufzuregen, und er suchte sogar durch ein paar anerkennende Worte über den persönlichen Charakter und die Gelehrsamkeit Goezes den widrigen Eindruck seiner Schmähschrift abzuschwächen; aber er konnte damit die grobe Takt- und Geschmacklosigkeit nicht ungeschehen machen. Er war mit dem Almanach und der Standrede
*) Trotzdem nahm Bahrdt keine» Anstand, sich später, während seiner Untersuchung S- haft, cm Scmler zu wenden und in einem jammernden Briefe seine Fürsprache beim Minister v. Wöllncr zu erbitten. In der Bekümmernis seines Herzens — so schrieb er — nehme er seine Zuflucht zu ihm, qasm KrunkmitaLis ot dvniKilttiMs 1s>Mv ovlodrkch svvlllunu Scmler erfüllte seine Bitte.
Hamburg (Berlin), 1786. Seine Verfasserschaft bezeugt Bahrdt in seiner Lebensbeschreibung IV, S. 146.