Kleinere Mitteilungen.
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welche mehr oder weniger frei nach dem englischen Büchlein „Don't" Regeln aufstellen, wie wir uns in der Gesellschaft zn benehmen haben, und abermals folgen die Auflagen einander sehr rasch. Sie genügen einem neuen Bedürfnis. In den höheren Klassen sind die englischen Anstandsgesetze allgemein angenommen worden, begreiflicherweise wollen die andern nicht zurückbleiben, und da sie nur ausnahmsweise Gelegenheit habeu, die englischeu Sitten praktisch zu studireu, greifen sie begierig uach dem auf wenige Seiten zusammengedrängten Leitfaden. Und es ist ja gewiß erfreulich, daß so viel Wert auf die Formen des Verkehrs gelegt wird, ebenso gewiß, daß wir darin viel von den Engländern lernen können, entschieden mehr als von den Franzosen, die heute so sehr beflissen sind, ihren alten Ruf der höflichste» Nation zn zerstören. Man mag immer behaupten, daß niemand den Umgang mit Menschen aus dem Knigge lernen werde: über die ganze Literatur dieser Gattung wegwerfend abzuurteilen, ist ebenso wenig gerechtfertigt wie das einstige Absprechen über allgemeine eneyklopädische Werke. Es fragt sich nnr, ob die neuen Komplimentirbücher sich von den alten ebenso vorteilhaft unterscheiden, wie die neuen gründlich gearbeiteten Encyklopädien von den handwerksmäßigen Kompilationen der Vergangenheit? Fmdet derjenige, welcher nicht das Glück gehabt hat, in einer gebildeten Familie aufzuwachsen und unmerklich zu lernen, was sich ziemt, und der sich dieses Maugels bewußt ist, wirklich bei dem gedruckten Ratgeber Ersatz? Wir bcdaucru, diese Fragen nicht einfach bejahen zu können.
Vor allem sehen wir keineswegs ein, weshalb das „Don't auch für andre Völker unbedingt Gesetzeskraft haben soll. Es gehört zu den nationalen Vorzügen der Briten, daß d^r Prinz und der zukünftige Lord wie der Sprößling des Brokers oder des kleinen Grundbesitzers in der Kinderstube geuan an dieselben Vorschriften des Benehmens gewöhnt werden. Aber daß nntcr diesen Vorschriften sich mancherlei befindet, was keinen vernünftigen Grund hat, erkennen vorurteilsfreie Engländer selbst au, wie z. B. Thackeray in dem ZZoolc ok Snobs. Anderseits wäre wohl nicht zu wünschen, daß wir nus die ganze brutale Rücksichtslosigkeit, welche Engländer nur zu oft im öffentlichen Leben, besonders im Auslande, bekunden, systematisch angewöhne«. Wir gestchen, es weniger austößig zu finden, wenn jemand einmal die Gabel in die rechte Hand nimmt, als weuu er die stanbigeu Füße auf den Sitz seines Nachbarn legt, odcr, wie das in London täglich gesehen werden kann, im dichtesten Menschengedränge achtlos das brennende Kerzchen wegwirft, mit welchem er seine Pfeife angezündet hat. Rügt man dergleichen, so wird gewöhnlich geantwortet, die betreffenden Personen gehörten nicht zur guten Gesellschaft. Allein ist nicht das Erscheinen eines Buches wie „Don't" ein Beweis, daß heutzutage viel gegen den Schicklichkeits-Kodex gesündigt werden muß? Stochern nicht in den feinsten Restaurants Herren, die entschieden ans den Titel Gentleman Anspruch erheben, ohne Scheu in den Zähnen herum und tragen den dazu benutztem Federkiel dann noch auf der Gasse zwischen den Zähnen, was doch gewiß sboekin^ ist? Die Verehrung, deren sich einstmals das Pfund Sterling, später die „politische Erbweisheit," der Freisinn uud Edelmut und die Macht Alt-Englands bei uns erfreuten, ist einigermaßen gewichen, es ist nicht notwendig, daß wir dein Hochmute der angelsächsischen Rasse neue Nahrung geben durch — oder sprechen >vir gleich im Tone der neuen Komplimentirbücher: „Es schickt sich nicht, fremde Eigenheiten nachzuäffen."
Des weitereu soll jemaud, der über gute Lebensart unterrichten.will, diese doch selbst besitze», denn es schickt sich nicht, aus einer Sprache zn übersetzen, die mau nicht völlig beherrscht, es schickt sich nicht, Sätze niederzuschreiben, bei denen