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Mittelpunktes und einer begrenzten Zcitperiode zum Gegenstande haben, ob sie in angenehmer, leichter Form Gesehenes, Anschauungen nnd Erinnerungen bieten sollen, wie seine Neisebeschrcibungen in den Pyrenäen und in Italien, ob sie von der Geschichte einer ganzen Nation und großen, die Geschicke der ganzen Welt beeinflussenden Ereignissen handeln, wie seine „Ursprünge des heutigen Frankreich," oder ob sie endlich dem abstrakten Gebiete der reinen Philosophie angehören, wie sein Buch von der Intelligenz. Seine Kritiker haben sich bemüht, aus seinen Schriften ein philosophisches System aufzubauen. Taine verwahrt sich eifrig dagegen, da er keinen Anspruch darauf erhebe, ein System zu besitzen, sondern höchstens versucht habe, einer einheitlichen Methode zu folgen; ein System sei die Darstellung und Erklärung eines ausgebauten Ganzen und setze ein abgeschlossenes philosophisches Werk vorans; er habe sich lediglich bemüht, in einer gewissen Richtung und auf eine gewisse Art zu arbeiten.
Taincs Methode nun, seine Art besteht in der Anwendung des Verfahrens der naturwissenschaftlichen Forschung auf menschliches Empfinden, Denken, Schaffen, Handeln. Emporgewachsen in einem Jahrhundert der exakten Analyse, ist Taine der Überzeugung, daß alles Philosophiren nutzlose phantastische Spielerei sei, wenn es sich nicht auf die feste Grundlage der empirischen Wissenschaften stelle. Wie der Naturforscher die Eigentümlichkeiten der Arten als die Ergebnisse äußerer Umstände und Einflüsse erklärt, so stellt Taine den Menschen, das Kunstwerk, das literarische Denkmal, Gedanken uud Anschauungen einer Nation, das geschichtliche Ereignis als den Ausfluß der Znsammenwirkung von Zeit, Ort uud Umgebung, Himmelsstrich und Volksstamm ?e. dar. Wie der Naturwisscnschcifter die physiologische Entwicklung der Natur nachweist, so Taine die psychologische der Geister, Völker und Zeiten. Seine Methode besteht in der Erklärung der geistigen Äußerungen des Lebens des Menschen nnd der Gesellschaft aus den physiologischen Entstehuugsbedingungen derselben. Taine ist immer philosophischer Denker, er bleibt es als Sittenschildcrcr, als Neise- bevbachter, als Kunst- uud Literarkritiler, er bleibt es als Geschichtschreiber. In allen seineu Schriften begegne» wir den beiden charakteristischen Seiten des Philosophen, die Dinge immer nach ihrem allgemeinen Znsammenhange zu erfassen, die zerstreuten Thatsachen methodisch zu ordnen. Vielleicht würde er, wenn ihn die Unduldsamkeit der Universitätstheoretiker nicht zum Schriftsteller- bernfe getrieben hätte, seine Arbeit auf das Gebiet der spekulativen Philosophie beschränkt haben. Man kann sich ihn leicht wie Spinoza, wie Kant, wie Hegel und andre in der einsamen Abgeschlossenheit einer rein spekulativen Thätigkeit, mit der Ausarbeitung einer Ethik, einer Kritik der Vernunft, einer Phänomeno- logie des Geistes beschäftigt denken. Sein Lebensgang, der Zwang des Broterwerbes, aber wohl auch seine große Beobachtungsgabe haben ihn auf Gebiete geführt, wo er im Gegensatze zu den unbegrenzten Sphären der Metaphysik, der Hypothese ein beschränktes, reelles Wirknngsfeld für Bethätigung seines