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Die heilige Magdalena von Witscht.
Waren aber nur die beiden letzten reine Symbole, und nur bei ihnen war als solchen die Quantität unerheblich. Es kamen zwar keine Könige, weder aus dem Mvrgen- nach aus dem Abendlande. Aber viele sehr vermögende Leute, ledige und verheiratete, verkauften wörtlich alles, was sie hatten, mit Haus und Hvf, um den Erlös der heiligen Madlene zu Füßen zn legen und als arme Taglöhncr weiter zu leben. Eine gute Anzahl derselben muß jetzt, nachdem sie alt und gebrechlich geworden sind, von der Gemeinde Witscht erhalten werden. Es sind noch dazu keine Witschter, sonder» Fremde; in Witscht selbst glaubten nur einige hysterische Jungfrauen, welche von der Welt in mehr als einer Beziehung vernachlässigt worden waren, an die heilige Madlene.
Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande. Darum mußte auch zuerst der Franzose Graf Mvntalembcrt das Leben der heiligen Elisabeth von Thüringen schreiben, während gewisse deutsche katholische Grafeu mit Vorliebe nach Lourdes wallfahren; so mußte der Pariser Freigeist Sainte-Beuve, der alle Charfrcitage beim Prinzen Napoleon Cervelatwnrst aß, in seinen I^uiräis eine wohlwollende, eingehende und geistreiche Besprechung über Katharina Emmerich und Clemens Brentano bringen; so haben nicht die Schweden, sondern die Deutscheu einen Gustav-Adolf-Verein; so wurde Jesus nach und nach von allen Völkern des römischen Reiches anerkannt, aber niemals von seinem eignen u. s. w.
In gewissem Siunc mußte die heilige Madlene natürlich auch die Bewohner von Witscht interessircn, unter denen sie einst in ihrer gemeinen Weltlichkeit als ihresgleichen gewandelt und für die sie nun unnahbar geworden war. Einen gewissen Nimbus besaß sie auch sür diese, selbst für die Ungläubigsten unter ihucn, hatte sie doch großen, ja außerordentlichen Erfolg, und das ist ein Ding, welches immer wirkt. Die Leute fragten sich: Was wird min geschehen, was sollen wir nvch erlebeil? Die Madlcnicmer ließen nichts verlauten, und wenn die Heilige selbst gesagt hatte, daß mit den gesammelten Mitteln „die änßer- lichen Hindernisse bei Gründung des tausendjährigen Reiches weggeränmt" werden sollten, so ließ sich dabei für einen Witschter Baner nicht viel denken.
Einstweilen sahen die Leute die immer reichlicher zufließenden Mittel zu allerlei verwendet, zu seidnen Kleiduern und samtnen Mänteln, zu weichen Sofas und Polsterstühleu, zu vielen Reisen nach Frankfurt, Köln, Wien und München, überhaupt zu eiuem in jedem Sinne üppigen Leben, wie die ungläubigen Witschter Weltkinder meinten. Freilich waren das nur Vermutungen, niemand von ihnen allen war ja dabei. Der einzige aber, dem das außerordentliche Glück zu Teil ward, war seit seiner Erhebung zu der nenen Würde für profane Witschter Wellkinder ebenso unzugänglich, vermied ebenso jede Berührung mit denselben wie die heilige Madlene selbst. Das war der heilige
Josef. (Schluß folgt.)
Für die Redaktion oercmtmvrtlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von Fr. Wilh. Grnnow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig.