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Zur Lebensbeschreibung Heinrichs von Kleist.
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bildung bringen/' denn Glück ist ihm das erfreuliche Anschauen der moralischen Schönheit des eignen Wesens. Kleist strebte als echter Künstler dem nach, was Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Men­schengeschlechtes gelehrt hatte: der harmonischen Ausbildung des Ichs. Dabei war er sich seines künstlerischen Zieles wohl bemußt; das ist sicher. Oder dürfen wir etwa annehmen, den zweiundzwanzigjährigen Kleist habe das Schillersche Jdeallehrgebäude angelockt, ohne daß er an irgend einen Fühlungspunkt mit dem realen Leben gedacht habe? Sicher nicht. Die Fühlung Kleists mit der Wirk­lichkeit ist aber alsbald hergestellt, wenn wir zwischen seinen Zeilen lesen, er habe die vollkommenste Ausbildung seines Selbst deshalb erstrebt, weil er in ihr die notwendige Unterlage für die Entfaltung seiner vielwollenden dichte­rischen Kraft erkannte. Universell wollte er sein im Wissen, um universell zu werden im Dichte». Brahm sucht eine Verbindung Kleists mit der realen Welt dadurch herzustellen, daß er nns sagt, Heinrich habe sich der akademischen Lauf­bahn widmen wollen; er habe dem Militärdienste entsagt, um der Wissenschaft allein zu leben.Der Wissenschaft nicht der Poesie: in dem bildungseifngen Jüngling schlummerte der poetische Trieb noch, nnd sein Leben dem gelehrten Beruf zu weihen, schien ihn?, der in einer Universitätsstadt aufgewachsen war, das Ideal." Brahm täuscht sich jedoch, in der Annahme, daß Kleist jemals allen Ernstes ein akademisches Lehramt für sich im Auge gehabt habe. Gegen einen solchen Plan spricht schon der Umstaud, daß der Dichter seine Kräfte von vornherein nicht auf eine Wissenschaft nebst den verwandten Fächern beschränkt, sondern daß er die Sphäre seines Strcbens auf die verschiedenartigsten Wissens­zweige ausdehnt. Um als Akademiker hervorragendes zu leisten, hätte er sich einer Wissenschaft, wenn nicht ausschließlich, so doch vorzugsweise hingeben müssen. Er geht aber auf die Universität, um das Wissen der Welt zu umfassen.

Es sei gleich hier bemerkt, daß wir das WortWissenschaft" bei Kleist immer «zum grWo 8^8 zu nehmen haben. In demselben Briefe (13. November 1800), in dem er von seinengeliebten Wissenschaften" spricht, erklärt er mit Bestimmtheit, kein Amt annehmen zu wollen, ein eigner Zweck stehe ihm vor Angcn. Wenn aber in der That die Wissenschaften seine ganze Zuneigung be­sessen hätten, so würde er sich nicht gegen den Eintritt in ein Amt gesträubt habeil, vielmehr hätte ihm gerade ein akademisches Amt als die wünschens­werteste Znkunft erscheinen müssen. Seine wahre Herzensmeinung rückt er nns in das Licht, wenn er in eben demselben Briefe, der immer uur dieWissen­schaften" als das Ziel seiner Wünsche hinstellt, den Ausspruch thut:Shake­speare war ein Pferdejunge, und jetzt ist er die Bewnndernng der Nachwelt____

Wilhelmine, warte zehn Jahre, und dn wirst mich nicht ohne Stolz umarmen." Unter den Begriff dergeliebten Wissenschaften" faßt Kleist alles, was seine» Geist innig beschäftigt, nnd nicht znletzt die heißgeliebte Poesie. Es ist eine