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Die Arbeitsschutzgesetzgebung in Belgien.
zudrücken, sodaß periodische Streiks und Unruhen in einzelnen Kohlendistrikten schon seit Jahren an der Tagesordnung sind. Es soll nicht geleugnet werden, daß in den höhcrn belgischen Klassen die Privatwvhlthätigkeit geübt wird, aber sie zersplittert sich wie in den übrigen Ländern in vcrschiedne Zweige und vermag ohne allgemeinen Plan und die erforderlichen Mittel niemals einen allgemeinen Zustand der Befriedigung hervvrznrusen. Die Privatwvhlthätigkeit ist auch außer stände, das soziale Übel bei der Wurzel anzupacken; dein: sie gewinnt den Arbeiter nicht, weil sie seinen Stolz verletzt.
Von Staatswegen ist bisher nichts geschehen, um die Lage der belgischen Arbeiter zn verbessern. Die Gesetzgebung zum Schutze der Gesundheit und des Lebens der Arbeiter ist eine völlig unzureichende. Es mag daran erinnert werden, daß erst durch das Reglement vom 28. April 1834 verboten wurde, daß .Knaben unter zwölf und Mädchen unter vierzehn Jahren in den Gruben „unter Tag" arbeiten. Nicht nur ist diese Altersgrenze eine unzureichende, nicht nur ist die Frauenarbeit uuter der Erde ohne weitere Einschränkung gestattet, in den andern Fabrikationszweigen werden sogar zarte Kinder im Alter zwischen neun und zehn Jahren zu den erschöpfendsten Arbeitsleistungen verwendet, und auch die Nachtarbeit wird in vollkommen freier Ausdehnung geduldet.
Bezüglich der Haftpflicht beruht die belgische Gesetzgebung auf den für längst überholte wirtschaftliche Zustände kaum genügenden Vorschriften des Lioäs civil. Ohne zwischen einzelnen Unternehmungen zu unterscheiden, gilt sür alle Verhältnisse des bürgerlichen Lebens der gleiche Grundsatz, daß jeder für den von ihm oder von seinen Untergebnen verursachten Schaden haftet (Art. 138.?, 1384). Wer Schadenersatz verlangt, muß selbstverständlich den ganzen Kausalzusammenhang beweisen, und so liegt auch dem von einem Unfall betroffenen Arbeiter oder dessen Hinterbliebenen der Nachweis ob, daß der Unfall dem Verschulden des Arbeitgebers zuzumessen sei. Es braucht in diesen Blättern, welche die deutsche Gesetzgebung über die Unfallversicherung der Arbeiter in allen ihren Phasen verfolgt haben, nicht noch besonders ausgeführt zu werden, daß diese Vorschriften in der überwiegende» Mehrzahl der Fälle zu einem höchst unbefriedigenden Ergebnis führen, indem sie den Arbeiter schutzlos machen.
Nach zwei Richtungen hat die belgische Gesellschaft aus sich selbst heraus diesen so klar zu Tage tretenden Übelstünden Abhilfe zu schaffen gesucht. Einerseits bemühte sich eine sehr anerkennenswerte Richtung in der Jurisprudenz, den vorerwähnten Vorschriften eine den heutigen sozialen Verhältnissen mehr entsprechende Auslegung zu geben. Ein ini Jahre 1884 veröffentlichtes Werk des ehemaligen Justizminiftcrs Sainetclette (IlÄ reLpoirsMIitu Mrimtiv) suchte die Beweislast bei Arbeiterunfällen umzudrehen, indem es schon aus dem kontraktlichen Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeiter folgerte, daß der erstere verpflichtet sei, den letztern vor Unfällen zu behüten, und daß daher bei Eintritt von solchen der Arbeitgeber, um von der Verantwortung frei zu bleiben,