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Die Entscheidung und die Zukunft der Parteien in England.
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Musikalische Sündou.

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natürliche Verhältnis der Geschlechter im Konzertsaale so ganz vergessen? und ist etwa die Tracht der Sängerinnen darauf berechnet, ihre holde Weiblichkeit und die äußern Vorzüge ihres Geschlechts zu verstecken? und all die Opern­gucker, die im Augenblicke des Auftretens der Künstlerin sich auf das Podium richten, beweisen die etwa, daß man nur für die Töne der Stimme Ohren, nicht auch Äugen für etwas andres hat? Nein, eine große Menge Lieder werden im Munde der Frau einfach zu Taktlosigkeiten, die das denkende Publikum ab­lehnen sollte! Da sang im Leipziger Gewandhause (im dritten Konzert des Winters 1884/85) ein Fräulein Walter das venctinnische Gvndcllied von Mendels­sohn:Wenn durch die Piazetta die Abendlnft weht ze." Es ist das eines von den Entführungsliedern, der Liebhaber fordert seine Ninetta auf, mit ihm das Boot zu besteigen u> s, f. Wie kann das nur eine junge Dame singen? Aber Fräulein Walter half sich in äußerst geistreicher Weise über das Bedenke» hinweg, das ihr also doch wohl auch gekommen sein mußte: 'sie sang im letzten Vers: Laß durch die Lagunen, Geliebter, uns flieh»! Nuu ist denn doch der Unsinn voll: eine Dame singt eine Dame, Ninetta mit Namen, an, nennt sie ihren Geliebten und fleht sie an, sich entführen zu lassen. Kann man das ernsthaft anhören? Sollte nicht die Kritik mit Keulenschlägen gegen derartigen Blödsinn losgehen? Aber wer auf die Gedankenlosigkeit und Denkfaulheit der Menschen rechnet, der verrechnet sich selten oder nie!

Ich habe mir schon manchmal Mühe gegeben, Sängerinnen auf das Un­weibliche uud Unzarte aufmerksam zu machen, das in dem Vortrage solcher unverkennbaren Männerlieder durch eine Frau liegt. Sonderbar: Dilettantinnen gaben mir meist recht, Künstlerinnen von Fach nie. Oft verstanden sie mich nicht gleich, der Gedanke war ihnen zu neu, als daß sie ihn gleich hätten faffen können. Dann aber sagten sie: Das würde eine ganz ungerechtfertigte Be­schränkung unsers Repertoires sein. Das ist nun ganz und gar nicht der Fall. Denn erstens giebt es eine zahllose Menge von Liedern, die männlichen und weiblichen Vortrag gleichermaßen zulassen. Dahin gehören alle erzählenden Lieder, Romanzen, Balladen, und zweitens giebt es eine Fülle so prächtiger Mädcheulieder, die mau selten oder niemals hört, daß die verehrten Sängerinnen genug und übergenug zu thu» hätten, wenn sie diese alle kennen lernen wollten! Überhaupt ist der Kreis der herkömmlichen Kvnzertlieder so eng, daß mau es, wen» man die gehäuften Schätze der neuern Liedlitcratnr nur ein klein wenig kennt, garnicht begreifen kann. Da ist zuerst die große Gruppe der Kiuder- und Wiegenlieder, die den Sängerinnen vorbehalten bleiben müssen. Dann die Lieder der Sehnsucht nach dem serne» oder treulosen Geliebten (wie N. Franz, ox. 35, Nr. 1), die Klagelieder der Verlassenen, die Jnbellieder der Glücklichen (R. Franz, ox. 4, Heft 2, Nr. 7: Er ist gekommen in Sturm und Regen) es ließen sich leicht Hunderte von schönen Mädchenliedern zusammenstellen. Schon die mnnnich- fachen Kompositionen zu Goethes Gretchcn am Spinnrade, zu seineu Mignou-