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„Die Literaturgeschichte wird seinen ungefälligen Namen nicht vergessen, und wenn er auch nur vor diesem einen Buche gestanden hat": mit dieser glänzenden Zensur versah ein Wohlbestalter Professor der Literaturgeschichtc nn einer berühmten Universität das Buch „Im Bruch." Kann man es mir verargen, daß ich mich beeilte, es zu kaufen und mit der Gier eines Menschen, der lange der rechten poetischen Kost entbehrt hat, zu lesen? Konnte ein neues Talent verheißungsvoller in die Literatur eingeführt werden? Mnß nicht der offizielle Vertreter der Wissenschaft am besten wissen, was auch zukünftig die Literaturgeschichte vou dem Werke des Autors mit dem wirklich „ungefälligen Namen" denken wird? Freilich soll es vorgekommen sein und zuweilen noch jetzt vorkommen, daß einer ein sehr hübsches Kollegienheft aus einer Bibliothek von Kritiken über Schiller oder Goethe zusammenstellen tonnte, selbst aber eines treffenden Urteils über litcrarische Erscheinungen, bei denen ihm keine Schlegel oder Gerviuus die Kritik vorgedacht hatte, so ziemlich entbehrte. Es soll ein Unterschied zwischen dem Historiker nnd dem Kritiker bestehen, und nicht immer sollen beide Begabungen iu einer Person sich vereinigt finden. Aber daran dachte ich erst, nachdem ich, auf die Autorität vertrauend, das Buch getauft und gelesen hatte, wonach es mir als eines der krankestcn nnd peinlichsten dichterischen Erzeugnisse erschien, die mir seit langer Zeit zu Gesichte gekommen sind. Da der Autor einen poluischcu Namen trägt und ich gleich hinzufüge, daß mir sein Werk in tiefster Seele undentsch, vielmehr recht slawisch, turgenjewisch empfunden erscheint, ohne jedoch durch des Meisters gcuiale Form zu befriedigen, so verdächtige man mich deswegen nicht des Chauvinismus, denn ich erkenne ebenso bereitwillig die vortreffliche deutsche Prosa der Dichtung an. Übrigens haben auch andre Kritiker, freilich von geringerer Autorität als der eines Universitätsprofessors, sich für diesen Autor als einen „deutschen Naturalisten" begeistert, svdaß es wohl gerechtfertigt erscheint, wenn ich dieses Wert hier einer unbefangenen Betrachtung zu unterziehen versuche.
In einer kleinen Landstadt lebten zwei Brüder, Michael und Gabriel Engel; so verschieden sie auch in ihren Charakteren waren, lebten sie doch als gntge- artete Menschen brüderlich liebevoll miteinander. Sie waren Söhne eines Gelbgießers, doch nur Michael betrieb das väterliche Handmerk weiter, Gabriel entschied sich früh für die Schlosserei. In diesem Berufe hatte er das Unglück, dnrch einen glühenden Eisenkern, der ihm bei der Arbeit ins Gesicht flog, sein rechtes Ange zu verlieren, ei» Unglück, durch das der ohnedies von Jugend auf ln sich gekehrte Gabriel sich noch mehr zur Einsamkeit und zur Trennung von den lauten Freuden seiner Alters- und Bernfsgenossen gestimmt fühlte. Michael Zedvch wurde ein Mensch, der es, ohne deswegen Beruf und Pflicht zu vernachlässigen, wie audre junge Männer trieb: er besuchte das Wirthans, liebte Spiel und Tanz u. dergl. m. Bei einem Turnfeste, an einem schönen Svmmer- tage, lernten beide Brüder zugleich eiu schönes Mädchen kenne»; sie hieß Cres-