parlamentarische Betrachtungen, Zgl>
Abschied nehmen, dagegen in Preußen an der Spitze der Geschäfte bleiben. Der Reichskanzler müßte aus der heterogenen Mehrheit genommen werden, wonach dem Kaiser mir die Wahl zwischen Richter, Windthorst oder Jadszewski bliebe. Dann hätten wir — wenn sich ein solcher Reichskanzler anch nnr einige Tage hielte — einen offnen Krieg zwischen dem Reiche und Preußen, ja der deutsche Kaiser müßte den König von Prenßen im Wege der Bnndesexekution zwingen, von den Ausweisungen Abstand zu nehmen. Das wäre das folgerichtige parlamentarische Rezept, welches unzweifelhaft zur Auflösung der opfervoll errungenen deutschen Einheit führen müßte. Denn mit der Auflösung der einen oder andern Körperschaft ist nicht viel gewonnen. Ehe die Mehrzahl der Wähler von den Parteibcmden befreit wird, bedarf es sehr tiefeingreifender Ereignisse.
Wir sehen auch hier das nackte Fiasko des Parlamentssystems. Dasselbe ist, Gott sei Dank, in Deutschland niemals znr Verwirklichung gelangt. Mit einer heroischen Festigkeit, die in ihrer vollen Bedeutung erst von den spätern Geschlechtern gewürdigt werden wird, hat König Wilhelm, von seinem Minister unterstützt, der Herrschaft der Parlamcntsmehrheit auch in den schwersten Zeiten zu widerstehen gewußt; er hat zeitweise selbst den Verlust der Popularität zu ertragen verstauben, ohne an der Treue seines eine Reihe von Jahren irregeleiteten Volkes — soweit dasselbe in dem Parlamente seine Vertretung fand — zu verzweifeln. König Wilhelm und Herr von Bismarck haben sich nach innen und außen wehren müssen, da die innern Schwierigkeiten den auswärtigen Gegnern Preußens mächtige Handhaben gewährten, dein aufstrebenden Staatswesen entgegenzutreten. Weun erst die englischen oder französischen Parteien solche Erfahrungen gemacht haben werden, wohin die alleinseligmachende Lehre der Parlamentsherrschaft führen kann, dann werden sie praktisch genug sein, sich von dieser Irrlehre loszusagen.
Gegenüber dem Parlamentsshstem hat die preußische und deutsche Regierung stets die Praxis des Kvnstitutivnalismus verfochten. Darnach bilden die Parlamente nur den Beirat der Krone, ohne welchen diese keine Gesetze machen kann, das Staatsruder selber aber bleibt fest in den Händen des Königs und Kaisers. Damit ist jedenfalls soviel gewonnen, daß dem Staate die verderblichen Schwankungen erspart bleiben, welche ihn bei dem Wechsel von Parlamentsministern von einem Extrem in das andre treiben. Dagegen ist freilich der Weg von Reformen nicht gesichert; hierzu bedarf die Kroue der Zustimmung des Parlaments, und bei einer Mehrheit, wie sie zur Zeit im Reichstage besteht, lassen sich auch die notwendigsten Gesetze oft garnicht, oft nur nach Jahren und unter Anfreibnng der kostbarsten Kräfte durchsetzen.
Auch ein solcher Zustand ist unheilvoll. Wir leben in einer Zeit tiefgehender sozialer Bewegungen, hervorgerufen durch die veränderten Erwerbsverhültnisfe und das Erstarken des vierten Standes zu einem selbständigen Faktor in der Gesellschaft, die soziale Frage hat eine Unrnhe in das Staatsleben gebracht,