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englischen Selfgovernmeut darstellte, daß das letztere in einer Übernahme staatlicher Pflichten durch die besitzenden Klassen bestand, daß lediglich die im Grunde genommen doch nur wenigen Tausend an Bildung und Besitz privilegirter Personen sich in der Ausübung der politischen Pflichten und Rechte teilten, und daß endlich innerhalb derselben nur zwei mehr historisch entstandene als innerlich tief begründete Gegensätze einander bekämpften.
Von allen diesen Grundsätzen war man ans dem Kontinente bis in die neueste Zeit nicht unterrichtet. Die Kenntnis englischer Verfassungsnormen wurde durch Montesquieu, der sie zum Teil nur halb und diese Hülste falsch verstanden hatte, seinen Landsleuten und deren Nachbarn übermittelt. Als Quintessenz englischer Freiheit faßte man die Entscheidung durch die Mehrheit der Gewählten auf, und so bietet uns die erste französische Revolution in ihren verschiedensten Verfassungen ebenso viele Versuche dar, diese Herrschaft einer uur nach den vier Rechenspezies geschaffenen Mehrheit zu gestalten. Ohne Rücksicht auf die Entwicklung, welche eine Jahrhunderte alte Gesellschaft genommen hatte, ohne Rücksicht auf die sozialen Unterschiede, wie sie durch Besitz, Beruf und Bildung mit Naturnotwendigkeit eintreten müssen, wird das allgemeine Wahlrecht und die Entscheidung durch die numerische Mehrheit zum Schiboleth gemacht. Es erscheint nur folgerichtig, wenn das Wahlprinzip, welches für die obersten Vertreter des Volkes im Parlamente gilt, auf alle andern Zweige des öffentlichen Dienstes angewendet wird, wenn man nicht bloß die Vertreter der Bezirke und Kreise nach den gleichen Grundsätzen wählt, sondern nach diesen auch Justiz, Verwaltung und Unterricht besetzt. Gewählt wird von der Mehrheit der Bewohner der Schulmeister wie der Steuereinnehmer, der Präfekt wie der Staatsanwalt und die Nichter sämtlicher Instanzen.
Theoretisch läßt sich das alles mit den schönsten und unwiderleglichsten Gründen rechtfertigen; damit diese Einrichtungen aber auch die Bedürfnisse des Lebens befriedigten, dazu wären Menschen notwendig, wie sie vor dem Sündenfall waren. Nachdem aber einmal die Kenntnis des Guten und Bösen auf die Welt gekommeu ist, eutscheidet in vielen Fällen nur die Selbstsucht oder die Verblendung, zumal wenn bei der Entscheidung die Kopfzahl den Ausschlag giebt. Die Franzosen haben auch mit dieser doktrinären Prinzipienreiterei ein klägliches Fiasko gemacht; das abstrakt philosophische Regiment konnte sich selbst mit Hilfe der Guillotine nicht behaupten; als es zusammenbrach, trat die Herrschaft des Säbels ein.
Trotz dieses so außerordentlichen Mißerfolges in der praktischen Durchführung hat man in Frankreich immer wieder das parlamentarische Regime wenigstens aus dem allgemeinen Schiffbruch zu retten gesucht. Man ist nicht wieder darauf zurückgekommen, das allgemeine Wahlprinzip auf alle staatlichen Funktionen anzuwenden. Aber für die Teilnahme an den höchsten Geschäften des Landes hält man es aufrecht, und weil man Jahrhunderte lang in England die Herr-