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Historische Romane.
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224 Historische Romane.

Träume sich zur Zeit nicht mehr in die Gestalt französischer »Protektion« kleidete. Das machten sich die Festungswerke PhilippsburgS zu Nutzen und zerfielen. Die vielbestürmten Mauern zerbröckelten, nnd hohes Gras und Ge­kraut wuchs in den ausgetrockneten Gräben. ... So lag im Jahre 1790 Philippslnirg als ein naturgemäßes Ergebnis, Produkt oder Faeit seiner Ver­gangenheit da. Es war zwar insoweit von seinem zweihnndertjährigen Branche abgewichen, als es gegenwärtig dem Auge keine rauchende Brandstätte nnd dem Ohr kein Jammergeschrei darbot, aber es hatte getreulich au der altcu Ge­wohnheit festgehalten, auf dem versumpftesten, trostlosesten Erdeufleckc des deutschen Reiches den verfallensten Häuserhaufen weltvergessener, armseligster Bevölkerung zu bilden."

Auf diesem düstern Hintergrunde entfaltet Jensen sein Zeit- und Charakter­gemälde vomAnsgange des Reiches." Er hat den Moment gewählt, wo die Revolution iu Frankreich schon ausgcbrvchen ist, aber noch bevor der Schrecken die Oberhemd gewonnen hat. In Schwärmen flüchtet sich der Pariser Adel über den Rhein und überschwemmt alle deutschen Höfe. Kurfürst Karl Theodor von Pfalzbaiern empfängt die Emigranten mit königlicher Gastfreundschaft. Auf seinem mit dem üppigsten Luxus ausgestatteten Lustschlosse Schwctzingen, das Versailles nicht bloß nachahmt, sondern womöglich zn übertreffen strebt, giebt er große Feste zu Ehren der Franzosen. Er treibt einen förmlichen Knltns mit ihucu! Sind sie ihm doch die Vertreter jener Bildung, die ihm, wie fast allen seinen europäischen Standesgenvssen, als das wertvollste Lebensidcal er­scheint. Das Wesen dieser einseitig ästhetischen Bildung darzustellen, ihre Glanz- und ihre Schattenseiten, ihren sprühenden Esprit und aristokratischen Hochmut, die Konsequenzen derselben für das soziale und politische Leben des Volkes, wofür ihr jedes Verständnis absvlnt fehlt, ist die künstlerische Tendenz des Romans. Hinter diese Charakteristik tritt das landläufige RonmnInteresse zurück, und diese meisterlich gelungene Darstellung macht das Werk Wilhelm Zeusens zn einem über die gewöhnliche Romanwaare weit hinausragenden.

Iu scharf umrissencn Gestalten hat Jensen die einzelnen Elemente verkörpert, welche für den Geist jeuer Epoche des sich auflösende» heiligen römischen Reiches deutscher Nation bezeichnend sind. In dem Kurfürsten Karl Theodor den kleinen roi sotvil. Er ist ein Mann von uugcwvhnlichcr geistiger Begabung; dnrch seinen Esprit entzückt er alle, die persönlich mit ihm Verkehren zu dürfen das Glück haben: selbst die hochmütigen Emigranten, die auch noch beim Gnaden­brote des deutschen Gastfrenndes dcu gallischem Dünkel nicht verwinden können. Aber alles Wissen, alle ästhetische Bildung dient dem Kurfürsten nnr dazu, sich dem feinsten, raffinirtesten Lebensgennsse hingeben zu können. Sv bezaubernd liebenswürdig und zuweilen wahrhaft königlich gütig er ist, ein so maßloser Egoist ist er doch. Von den Pflichten der Regierung befreit er sich so rasch als er nur kann; ihnen gegenüber ist er von einer unglanblichen Trägheit.