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Moderne Probleme.
dem, was ist, und dem, was sein sollte, so ist jener kritische Zug ja am Ende ein idealistischer, den man gutheißen kann.
„Was sein sollte," nicht im Interesse bestimmter Parteien und Anschauungsweisen, sondern nach den Vorschriften vernünftigen Denkens, ist heutzutage vielleicht ein wenig mehr als früher das Ziel der kritischen Lösungsversuche moderner Probleme. Denn nicht nur die innere Freiheit, wichtige Punkte unsers geistigen Ich durch konsequente Anwendung des Verstandes festzustellen, nicht nur das Erfahrungsmaterial hat zugenommen, dessen wir uns bei dieser Vcr- stcmdesarbeit bedienen können; viel größer, viel tiefer ist auch die Einsicht geworden, daß bei der Regelung allgemeiner und öffentlicher Interessen vor allen Dingen die historischen Bedingungen zu berücksichtigen sind. Wenn nur trotz alledcm moderne Probleme Aussicht hätten, gründlicher, d. h. vor allem auf länger hinaus gelöst zu werden, als es den frühern, vergangnen beschicken war! Wenn nur nicht gerade dieser historische Sinn in dem Bestreben, alles den gegebenen Verhältnissen anzupassen, erst recht dazu angethan wäre, ephemere Lösungen zu schaffen! Und endlich: anch das reinste, vernunftgemäßeste Denken hat Voraussetzungen, seien sie auch nur ganz allgemeine, metaphysische. Es ist deshalb in Wahrheit nicht rein, sondern nur weniger vielseitig bedingt und, in der Gegenwart, vielleicht freier von Rücksicht auf allerlei hergebrachte Ver- schnörkelnngc» und Verhüllungen der einfachen Vernünftigkcit.
Mit einer endgiltigen Lösung ist es also ein für allemal ein sehr heikles Ding, und am Ende kommen alle derartige Versuche doch nnr zu dem Ergebnis derjenigen spezifisch moderneu Einrichtungen, die sich professionsmäßig mit der Lösung politischer und sozialpolitischer Probleme befassen: zu dem Ergebnis parlamentarischer Arbeit. Es wird am guten Ende ein Mväus vivemcli gefunden, der für eine Reihe von Monaten und Jahren eben darnm erträglich paßt, weil er für leinen und keines vollkommen paßt. Denn nicht nur die historischen Bedingungen in ihrem schnellen Wechsel machen diesen Notbehelf so unvermeidlich. Die Gesellschaft selbst, für deren Interessen der Kampf der Meinungen entbrennt, ist innerlich nicht homvgen; zwei Generationen mindestens stehen sich mit dem Anspruch gegenüber, die öffentlichen Fragen in ihrem Sinne gelöst zu sehen. Die Bedingungen aber, unter denen jemand Mann geworden ist, sind zugleich die Bedingungen seiner geistigen Existenz; nur das Genie mag hiervon teilweise eine Ausnahme machen. Der mit den Anschauungen vergangner Jahrzehnte genährte kann deshalb mit dem ganz von modernem Lebenssaft getränkten in jeder einzelnen praktischen Frage einen Kompromiß schließen, eine prinzipielle Lösung aber nimmermehr vereinbaren.
Der Besprechung von Hartmanns nenem Bnch") Betrachtungen dieser Art vorauszuschicken, hat seinen guten Sinn. Denn der Verfasser hat die ein-
*) Eduard von Hartmann, Moderne Probleme. Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1886.