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Iwan Gontscharom.
keinerlei Lebensfähigkeit mehr besitzt. Kaum weint er ihr eine Thräne nach, nur gering ist der poetische Schimmer, mit dem er sie umgiebt. Die „Alltägliche Geschichte" ist (1847) vor „Oblomow" (1854) geschrieben, und obgleich der letztere in Rußland, wie uns vielfach versichert wird, eine sprichwörtliche Berühmtheit erlangt hat, scheint uns das ältere Werk wertvoller zu sein. Sie stehen in dem innigsten Zusammenhange miteinander, es sind dieselben Typen und Zustände iu beiden geschildert. Aber das erste Werk ist wegen seines großer» Reichtums an Handlung und Gestalten interessanter als das zweite. Es ist auch nicht so trostlos wie dieses, deuu iu der „Alltäglichen Geschichte" schlägt der Dichter noch eine Brücke vvu der Vergangenheit zur Gegenwart, der Held rafft sich schließlich auf, und sehr poetisch tritt ein drittes Lebensideal, ein höheres als die zwei kontrastirenden, am Schlüsse der Dichtung auf. Im „Oblomow" wird mit einer allerdings genialen Psychologie nichts als der Marasmus der alten Zeit bewiesen, der Held geht jämmerlich unter, der Bruch zwischen dem modernen Russen und dem Altrnssen ist unversöhnlich, ja nicht einmal ein Russe, sondern ein halber Deutscher wird als der lebensfähige Mensch hingestellt. Zabel verweist uns deutsche Leser in der Einleitung zu „Oblomow" auf diese für uns so schmeichelhafte Gestalt, welche Gortschanows Wertschätzung unsrer Nationalität in einem Grade, wie kein andrer russischer Dichter sie bekundet, offenbare. Ich denke, es kommt uns auf solche Komplimente nicht gerade an, uud objektiv wie wir sind, finden wir es sehr wenig erbaulich, wenn ein Dichter seinem Volke die Fähigkeit zu leben absprechen muß. Auch dieses Sichselbstzüchtigen mit dem Hinweis auf das weit vorgeschrittene Ausland ist übrigens eine echt russische Eigenschaft, die Turgenjew vielfach irvni- sirte, uud wir können vom nationalen Standpunkte es nur begreiflich finden, wenn eine Strömung in Nußland Raum gewonnen hat, die sich auf die Fortbildung der eigueu nationalen und historischen Individualität richtet.
„Eine alltägliche Geschichte" könnte ganz wohl als ein Bilduugsromau bezeichnet werden, obgleich diese idealistische Kategorie in scheinbarem Widersprüche zu der satirischen Tendenz des Werkes steht. Es schildert die Entwicklung eines schwärmerischen, unklaren Jünglings zu einem praktischen, mir allzu praktisch das Leben erfassenden Manne. Alexander Adujew ist der Sohn einer mäßig reichen Gutsbesitzerin der Provinz. Er ist zwanzig Jahre alt geworden und hat das Bedürfnis, die Welt und die Menschen, „das Leben" kennen zu lernen. Er fühlt unklar, daß die Lebensweise auf dein ererbten Gute, unter dem überzärtlichen Schutze der Mutter, die rechte nicht sein könue. Die mütterliche Sorgfalt geht ins Kindische. Wenn Alexander schläft, so muß sich das ganze Hausgesinde mäuschenstill verhalten; er kommt nicht zur geringsten Arbeit; ein Kammerdiener steht ihm von frühester Jugend auf faulenzend zur Seite; der tägliche Küchenzettel — eine Staatsaktion — wird nur mit Rücksicht auf ihn zusammengestellt. Und das ganze Leben ist auf diesen Fuß trüger Leibespflcge