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Freilich, lieber Freund, an und für sich magst dn Recht haben. Aber es ist doch auch ein Haken dabei; merkst du denn nicht, daß dieses eine rein naturalistische Erziehungsmethode, und Herr Keller der Zola auf dem Gebiete der Pädagogik ist. Die Kinder erhalten nur sanfte Speisen, Milch, Brot und Gemüse. Dadurch soll ihr wildes Blut gleichsam verwässert, verdünnt, reizlos gehalten und ihre verbrecherische Anschauung durch eine zartere und besänftigendere Vlntmischung gemildert werden. Was das für Resultate ergeben wird, weiß mau noch nicht. Vorläufig sperrt er sein Asyl gegen jedermann ab, denn er will nicht, daß er in der beliebten Berliner Weise von Reportern interviewt, gehöhnt und iu die Öffentlichkeit gezogen werde. — Doch du lernst ihn ja bald kennen. Auf Wiedersehen also morgen!
Fünftes Aapitel.
Am andern Abend schon zu etwas später Stunde trat Harald Stolberg in den Kcllerschen Salon und war aufs höchste überrascht, eine aus Herren und Damen bestehende Gesellschaft von mehr als sechzig Personen zu finden. Diese Überraschung verstärkte sich noch, als ihm ein Mädchen mit freundlichem Gruße die Hand bot, das aus einem der Prachtbilder des Paolo Veronese, wie er sie in dem Dogenpalast zu Venedig mit täglich steigender Bewunderung gesehen hatte, herabgestiegen zu sein schien. Es war die Tochter des Hauses. Eiu prächtiges Sammtkleid von blutroter Farbe ließ uicht nur aufs vorteilhafteste ihre schönen Formen hervortreten, sondern gab dnrch die Schwere des Stoffes und die reichen Falten ihrer Gestalt eine hoheitsvolle, wahrhaft königliche Haltung. Auf dem Haupte trug sie ein kleines venezianisches Käppchen von gleicher Farbe, unter welchem in aufgelösten Flechten die reichen goldncn Haare hervorquollen, die sich bis über den Rücken herab ergossen. Harald war dieser märchenhaften Erscheinung gegenüber so geblendet, daß er auch angesichts der freundlichen Begrüßung durch deu Hausherrn sich ungeachtet seiner sonstigen gesellschaftlichen Übung und Gewandtheit ungeschickt und linkisch vorkam. Aber er wurde schnell einigen Dntzend Damen und Herreu vorgestellt und sah sich bald in den Strudel der Gesellschaft hineingezogen.
Diese letztere war so gemischt, wie sie nur in irgendeinem gnten Berliner Hause sein konnte. Demgemäß durfte es auch nicht an dem besondern Anziehungspunkte fehlen, den der Wirt seinen Gästen zu gewähre» sich für verpflichtet hielt. Die Sekretäre und Attaches der japanischen und chinesischen Gesandtschaft verkehrten schon in zu viel Gesellschaften, besonders der Finanz, als daß man noch auf einen besondern Eindruck ihres Erscheinens rechnen konnte. Herr Keller hatte es bereits bis zu einem wirklichen Gesandten gebracht. Koryphäe des Abends war Herr Zankabioticie, der Gesandte eines dnrch den Berliner Vertrag noch nicht anerkannten, halborientalischen Tribntärstaates, welcher, von der