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Auf dem Stilfsor Joch.
Artillerieleutuant aus der Kriegsschule, an der Straßenecke erwartet und begleitet würde, der andern, daß sie sich in der einsamen Konditorei an der Ecke der Potsdamer- und Lützvwerstrciße mit einem Primaner vom Wilhelms-Gymuasium allwöchentlich mehrere Stelldichein gäbe, der dritten, daß sie sich auf der Schlittschuhbahn auf der Nousseauinsel beim Fahren durch die Brücke von einem Studenten habe küssen lassen, und da jede von ihnen den triftigsteil Gründ hatte, die sie betreffenden Angelegenheiten nicht bis in ihreu innersten Gruud verfolgt zu sehen, so hatte sich Vroni im allgemeinen Ruhe und Achtung zu verschaffen gewußt. Nur Alice Bcyer, ein neidisches und spottsüchtigcs Diug, das schon wegen seiner Häßlichkeit zu einem Gerede keinen Anlaß geben konnte, versagte es sich nicht, wo sie eiue Gelegenheit erspähen konnte, der armen Vroni, wie der eben mitgeteilte Vorfall in der Schule beweist, einen Stich zu versetzen.
Auf Harald aber machten Vronis Seelenenthüllungen keinen Eindruck; er war blind für sie wie für alles, was uicht sein Bild anging. Der Gedanke an dieses folterte ihn ohne Aufhören; er sah sich für immer zur Sklaverei verurteilt, nnd die Aussicht, sich von den Galeerenkugeln an seinen Füßen zu befreien, schwand mehr und mehr.
Harald war es daher auch garnicht ausgefallen, als mit dem Ende des Schuljahres Vroni, welche die Dressur der Frau von Flinsberg in allen Graden durchgemacht hatte, die Anstalt verließ und schon in den nächsten Tagen nach den? Schulschluß mit ihrem Vater in seiner Wohnung erschien, um ihn dringend um Fortsetzung des Unterrichts in der Malerei durch Privatstundcn zu bitteu. Harald wollte für das kommende Semester ncne Schüler nicht mehr annehmen und hatte sich wieder einen neuen Plan gemacht — ein solcher wechselte mit jedem Tage, weil jeder noch so fein durchdachte Plan an den thatsächlichen Verhältnissen scheitern mußte —, wonach er wenigstens dreimal in der Woche je zwei Stunden an seinem Bilde malen konnte. Er lehnte deshalb die Bitte mit Rücksicht auf seine überaus beschränkte Zeit ab. Der Vater suchte noch mit einigen Worten den Entschluß des Malers waukend zu machen, das Mädchen selbst aber brachte keinen Ton hervor. Vroni wurde vielmehr auffallend blaß, und als Harald nochmals seine Weigerung wiederholte, schien es ihr, als ob ihr Herz zerspränge, sie wurde zum großen Schrecken der Anwesenden ohnmächtig und konnte sich erst nach längerer Zeit erholen. Herr Keller glaubte diesen plötzlichen Unfall nicht anders erklären zu können, als daß seine Tochter sich schon so sehr mit ihrem Lieblingsgedanken, die Malerei unter Stolbergs Leitung fortsetzen zu können, vertraut gemacht hätte und nun durch das Scheitern ihres Lieblingswuusches in eine so heftige Gemütsbewegung versetzt worden wäre. So in die Enge getrieben, hielt sich Harald nicht mehr für berechtigt, länger bei seiner Weigerung zu verharren, nnd Vroni Keller trat als nene Schülerin in das Atelier von Harald Stolberg ein.