20
Wein- und Gbstbau in Deutschland.
es jedoch, ob nicht bei rationeller Pflege auch heute noch so gut wie im Mittelalter vieles Gute und Edle nn Orten wachsen könnte, wo es heute nicht wächst. Diese Frage glauben wir unsrerseits entschieden bejahen zu dürfen. Wir sind von vornherein der Überzeugung, daß, was im Mittelalter gediehen ist, auch heute noch gedeihen würde, und daß viele der heute fehlenden mittelalterlichen Produkte, wenn auch rauher und herber als diejenigen begünstigterer Gegenden, doch auch hente noch durchaus verwendbar und ein trefflicher Ersatz für manches andre wären. Und hier kommen wir zu einem andern bedeutsamen Punkte: daß der heutige Arbeiter lieber Schnaps als einen rauhen, geringen Wein trinkt, ist ohne Zweifel richtig, aber es ist sehr bedauerlich, und es ist die Folge einer Entwicklung, die ihrer Zeit aus bestimmten Gründen hat eintreten müsse», die aber anch wieder in ihr Gegenteil umschlagen oder auf einen Rück- bildungsprozcß hinauslaufen kann, und dabei läßt sich ein gutes Stück nachhelfen. Welcher Segen wäre es, den Schnaps durch einen billigen Landwein verdrängen oder doch mit teilweisem Erfolge bekämpfen zu können! Derselbe würde sauer sein, gewiß; aber kann dies im Lande der sauern Gurke ein Hindernis sein?
Kvmmen wir auf unsre Grundfrage zurück: Warum wächst heute nicht mehr, was damals wuchs? Welches Hindernis steht im Wege? Das Klima ist schwerlich um ein merkliches schlechter, als es damals war; das Produkt würde nach unsern Begriffen vielfach gering, in gewisser Hinsicht auch nicht konkurrenzfähig sei», aber immerhin so gut wie damals seine Verwendung finden können; warum ist trotzdem das Streben, den Anbau der verloren gegangnen Produkte wieder einzubürgern, auf einzelne Liebhaber beschränkt? Unsre Antwort lautet: Weil die Lust uud Freudigkeit zu solche» mühsamen Knlturen bei den Besitzern und noch mehr bei den Arbeitern nicht vorhanden ist. Es fehlt die aufopferungsvolle Sorgfalt, der Gedanke bei Tag und Nacht, die Liebe zur Sache uud der Stolz darauf, endlich vor allem auch die bei allen feineren Betrieben so wesentliche genaue Kenntnis nnd Erfahrung; wo diese aber fehlen, da kann kein gnter Apfel, geschweige denn eine Weintraube gedeihen. Wenn man heute den rheinischen Winzern die Freudigkeit und Selbstaufopferung, mit der sie unaufhörlich der mühsamen Arbeit ihres Bernfes nachgehen, sowie ihre an Wissenschaftlichkeit streifende intime und selbständige Kenntnis von der Sache wegnehmen könnte, so würde morgen auch am Rhein nichts Trinkbares mehr wachsen! Dem größten Teile unsers Volkes, und ganz besonders dem deutschen Nordosten, sind diese Dinge aber iu Schicksalsprüfungen der schrecklichste,, Art genommen, und es ist dahin gebracht worden, daß auf Jahrhunderte niemand mehr über die Notdurft des Lebens hinaus dachte und niemand mehr über den Zwang zur Arbeit, um Speise und Trank zu schaffen, hinaus empfand. Dies, und dies allein ist es, was die Weinberge und die Obstpflanzuugen in so vielen, ehemals blühenden Gefilden hat eingehen lassen.