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Strafen und Strafabmessung.
in der Bestrafung Schuldiger als eine der ganzen bürgerlichen Gesellschaft drohende Gefahr empfunden werde. Faßt man nun die Praxis der Gerichte, wie sie in der Krimiualstatistik für 1883 zusammengestellt ist, ins Auge, so ergiebt sich sofort, daß die Milde überall noch Platz greift. Es wurde beispielsweise im Jahre 1883 in den verschiednen Oberlandesgerichtsbezirken erkannt: bei einfachem Diebstahl auf Gefängnisstrafe von 3 Monaten und darunter in 95,6 Proz. (Karlsruhe), in 93,7 Proz. (Königsberg), in 94,3 Proz. (Darmstadt) aller Fälle. Gefängnisstrafen von über 3 Monaten bis zu einem Jahre erhielten in Karlsruhe von 2226 wegen einfachen Diebstahls Verurteilten nur 52, iu Königsberg von 5778 Verurteilten nur 182, in Darmstadt von 886 Verurteilten nur 21. Nur gegen 3 wcgeu einfachen Diebstahls Verurteilte wurde in Darmstadt eine Gefängnisstrafe von mehr als 1 Jahr ausgesprochen; eine höhere Strafe wurde überhaupt nicht erkannt. Und doch droht der Z 242 des Strafgesetzbuchs für den einfachen Diebstahl Gefängnis bis zu 5 Jahren an. Ähnlich wie in den herausgehobenen, oft noch schlimmer, ist es in allen andern Obcrlandesgerichtsbezirken. Überall läßt sich ans den gegebnen Zahlen das Bestreben der Gerichte herauslese», von dem zulässigen Strafminimum nicht allzuweit sich zu entfernen und mir geringfügige Strafen auszusprechen. Es wird dabei ganz vergessen, daß eine derartige Anwendung des Strafgesetzes fast ebenso willkürlich ist, als wenn etwa ein Gericht sich garnicht mehr um den gesetzlichen Strafrahmen kümmern wollte. Denn wenn der Gesetzgeber ein Vergehen — nehmen wir der Kürze halber wieder den Diebstahl — mit einer Gefängnisstrafe von einem Tage bis zu 5 Jahren bedroht, so ist er doch der Ansicht, daß der Richter nur in ganz besonders leichten Fälleu ans die geringste Strafe erkennen soll, daß dagegen in allen gewöhnlichen Fällen eine Gefängnisstrafe, die sich etwa in der Mitte des Strafrahmens bewegt, eintreten soll. Wird nicht dieser Absicht des Gesetzgebers beinahe Hohn gesprochen, wenn kürzlich ein Gericht, wie in der Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Büreans, Heft I bis III, Jahrgang 1885, mitgeteilt wird, gegen eine Mutter, die ihre zehnjährige Stieftochter in fünf Fällen zum Diebstahl angestiftet hatte, eine Gefängnisstrafe von drei Wochen erkannt hat? Formell mag diese Strafe innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens geblieben sein, materiell aber ist die Entscheidung ebenso unrichtig, als wenn das Gericht etwa auf eiucn Verweis erkannt hätte.
Ich glaube diese Betrachtung nicht besser schließen zu können als mit den Worten, die am Schlüsse einer längern Abhandlung des Geh. Oberregierungsrates Jlling, abgedruckt in der vorhin erwähnten Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Büreans, zu lesen sind. Dort heißt es: Dem Verlangen nach strengern Bestrafungen wird gemeinhin mit dem Hinweis darauf begegnet, daß die barbarischen Strafen der Vorzeit nicht zur Verminderung der Verbrechen, sondern zur Verrohung des Volkes geführt hätten. Mit diesem Einwände, der häufig die Form von Deklamationen über die Anforderungen der