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Hartmanns Armer Heinrich.
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Hcirtmcmns Armer Heinrich.

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man ihn ob seines formalen Vorzuges nicht als den größten Meister unsrer mittel­alterlichen Epik auf den Schild heben sollen. Gottfried, nn der berühmten Stelle des Tristan, verbindet das Lob Hartmanns mit einem höchst bissigen Tadel gegen den Finder wilder Mären, den Verwilderer höfischer Erziehung Wolfram von Eschcubach. Es hat mich befremdet, auch in der neuestell Ausgabe des Hartmannschen Gedichtes, einer sonst dankenswerten Gabe aus Wilhelm Wackernagels Nachlaß,") einem ähnlichen Urteile wieder zu begegnen, wie es Gottfried im Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ausgesprochen hat. Un- zähligcmale hat man mich dem Vorgänge von Gewinns den Gegensatz erörtert, in welchem sich Gottfried und Wolfrain und ihre Schulen bewegten. Sogar in einer modernsten Zuckerwasserdichtnug ist diese literarhistorische Thatsache belletristisch verwertet worden. Jener Gegensatz ist wirklich eine der wichtigern Erscheinungen unsrer Literaturgeschichte. Er kehrt im achtzehnten Jahrhundert wieder iu der Gegenüberstellung Hagedorns und Hallers, Klopstocks und Wielands. Haller suchte in einer lesenswerten Abhandlung sich selber über die Natur dieses Gegensatzes Klarheit zu verschaffen. Hat die literarische Forschung des neunzehnten Jahrhunderts aber mit vollem Rechte auf den Gegensatz Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach hingewiesen, so darf darüber doch nicht vergesse» werde», daß Gottfried selber Hartmann von Aue und Wolfram als die Führer verschicdncr Richtungen einander entgegensetzt. Hartmann ist der Vertreter des korrekten Formalismus, wie er sich unter andern Verhältnissen und in andrer Form dann im achtzehnten Jahrhundert wieder in Gottscheds Schule bildete. Dieser ästhetischen Korrektheit entspricht auch eine ethische; doch nein, dies Wort sagt zn viel, es deutet zugleich auf das Element hin, welches Hartmanns Sittenlehre eben nicht iu sich enthält. Hartmann schildert uns in seinen beiden großen Epen das Ideal höfischer Sitte, von einer tiefern Auffassung ist bei ihm keine Rede. Der Anstand, man möchte fast sageil nach einem Komplimentirlmche, wird hier in ritterlicheil Beispiele» gelehrt, das allgemein menschliche Sittengebvt und Gefühl kommt dabei aber entschiede» zu kurz. Auch Wolfram ist in den Anschauungen seines Standes vielfach befangen. Der junge Parcivnl tötet eigentlich aus kindischem Umstände den edeln König Jther von Gahevicz, den fleckeureinen, von dem nie ei» Ohr etwas tadelns­wertes vernommen. Der Dichter beklagt seinen Tod, weil dieser durch einen Gabhlvt (Wurfspeer), nicht durch eine Turnierlauze erfolgt ist. Solches Auf­gehen in der formelhaften Conrtoisie kommt auch bei Wolfram öfter als einmal vor. Aber wie weit steht er nichtsdestoweniger von Hartmann und seinem rein äußerlichen Wesen ab. Ich gebe statt aller weiter» Ausführung nur ein Beispiel, das mir so charakteristisch erscheint, daß ich mich wundre, es nicht schon längst

Hartmanns Armer Heinrich. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von Wil­helm Wackernagel herausgegeben vvn W. Toischer. Basel, Beim» Schivabe, 1885.