Rechtspolitische Streifziigo.
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feste Regeln entscheiden, svndern freie Erwägung, die bei einem Nichter anders als bei dem andern ausfallen kann. Die Krönung dieses Gebäudes ist durch die Straf- und Zivilprozeßordnung erfolgt, und hier umso bedauerlicher, als insonderheit dem Einzelrichter eine Stellung eingeräumt worden ist, die mir in der des türkischen Kadi ein Gleichnis findet. Namentlich hat der Wegfall der Berufung das richterliche Urteil der wirksamsten Kontrole beraubt. Wir haben auch hier nicht die Absicht, alle diese Gedanken bis ins einzelne auszuführen, uns genügt es, auf diese Übelstände hinzuweisen und eine Erklärung dafür zu gebeu, warum heutzutage ein Angeklagter sagen kann: „Mein Ermessen und das richterliche sind gleichwertig." Und man wird zugeben müssen, daß die Berufung auf das „Ermessen" noch billiger ist, als die auf Gründe.
Alle die beregten Übelstände sind in der Lnneburgcr Haide oder in Lemgo natürlich viel weniger fühlbar als in den großen Verkehrszentren, in den Städten, wo sich die politischen Gegensätze viel schärfer zuspitzen. Wenn dort der Amtsrichter als Patriarch lebt und die Zwistigkeiten seiner Eingesessenen im Frieden schlichtet, so wird er seiner Aufgabe viel näher kommen, als wenn er hundert schöne Urteile fällt und die Gründe mit Gesetzesparagraphen spickt. Aber der Prüfstein gnter Gesetze und guter Einrichtungen besteht nicht in ihrer Wirksamkeit für kleine uud stille Verhältnisse, sondern hauptsächlich darin, daß sie anch bei verwickelten Zuständen und in kritischer Zeit ausreichen. Von den Millionen richterlicher Urteile, welche ohne Anstoß gesprochen werden, ist nie die Rede, wohl aber ist schon ein einziges in einer e-mss ovMro entstandnc geeignet, eine ganze Generation in Bewegung zu setzen. Eben deshalb sollten die Gesetzgeber ihre Vorschriften so treffen, daß sie nicht in Zeiten der Stürme Schiffbruch leiden, sondern sich als fester Anker erweisen, den auch anarchische Fluten nicht loszureißen vermögen.
Man darf etwa nicht glauben, daß heutzutage in der Öffentlichkeit schon eine genügende Kontrole liege, vielmehr birgt letztere anch die große Gefahr in sich, übertrieben zu werden und durch ihre unberufene und unverständige Einmischung mehr noch die Gemüter zu verwirren als aufzuklären. Ein besondrer Übelstand aber ist es, daß auch nicht mehr das Privatleben vor der vorlauten Indiskretion der Presse sicher ist, und daß, wer irgendwie eine Stellung im Politischen Leben einnimmt, seine Privatverhältnisse der Öffentlichkeit durch die Tagespresse preisgegeben sieht. Wir haben sehr ernste Strafbestimmuugcn gegen Verletzung des Hausrechts, und sogar Verdächtigen gegenüber wird oft zum Schaden der Rechtssicherheit der Polizei verwehrt, in das Innere des Hanfes einzudringen. Aber wenn es sich um das Privatleben handelt, um die ehelichen Verhältnisse, um Kinder und Verwandte — Güter, die tausendmal teurer dem Einzelnen sind, als sein Haus —, dann läßt man es zu, daß eiu Journalist, ohne Auftrag, ohne Ermächtigung, ohne Recht, bloß weil er Journalist oder Reporter ist, die Schwelle unsers hänslichen Herdes überschreite, das intimste