Das richterliche Urteil und die Phrase.
1.1
geschwächt und verliert schon dadurch an Bedeutung. Bei andern wird dagegen bestimmt gesagt, daß der Widerspruch bestehe „festgestellten und unzweifelhaften" oder „vorhandenen, bestehenden und ermittelten Thatsachen" gegenüber. Da nun auch diese Thatsachen unzweifelhaft Stöcker bekaunt waren, so hätte man danach erwarten sollen, das Gericht werde allerdings zu dem Ergebnis ge- langm, daß Stöcker mehrmals absichtlich und bewußt die Unwahrheit gesagt, also gelogen habe. Es folgt dann aber der Ausspruch, daß der Gerichtshof sich nicht zu der Annahme „bequemen" könne, daß Stöcker nicht im Irrtum sich befunden habe, was mit der Erregtheit Stöckers und der notorischen Erregtheit uud Heftigkeit politischer Debatten mvtivirt wird. Ohne Zweifel wäre es zur Vermeidung mißbräuchlicher Benutzung des Urteils dienlicher gewesen, wenn man bei jeder einzelnen Thatsache die Frage beantwortet hätte, ob dabei Stöcker bewußt und absichtlich die Unwahrheit gesagt habe. Dann würde mau auch vielleicht minder entschieden einen „Widerspruch mit den Thatsachen" konstatirt haben. Denn in Wahrheit lag die Sache so, daß auch in jenen beiden Füllen, wo das Gericht unbedingt einen solchen Widerspruch als vorhanden aussprach, mir ein relativer Widerspruch mit den Thatsachen vorlag. Dies tritt am deutlichsten hervor bei der Frage über die Beteiligung Stöckcrs an den Verhandlungen der Thüringer Kirchenkonferenz. Stöcker hatte seine Beteiligung an diesen Verhcmdlnngen verneint. Nun staud fest, daß er bei dieser Konferenz keine Rede gehalten, daß er aber auf eine dort an ihn gerichtete Frage mit einigen Worten geantwortet hatte. War dies nuu eine Beteiligung an der Verhandlung? Je nachdem man diese Frage verneinte oder bejahte, konnte man sagen, daß Stöcker wahr oder nnwcchr gesprochen habe. Sonderbarerweise erklärt das Urteil, diese Frage dahiugestellt sein lassen zu wollen, und der Vorsitzende spricht sogar seine persönliche Ansicht dahin aus, daß er diese Frage nicht bejahen würde; gleichwohl wird unmittelbar darauf gesagt, daß Stöcker sich durch jene Verneinung mit den feststehenden Thatsachen in Widerspruch gesetzt habe. Ahnlich verhält es sich mit der Unterschrift der Antisemitenpetition. Stöcker hatte dieselbe anfangs unterschrieben, dann aber seine Unterschrift ans Ansuchen des Dr. Förster zurückgenommen. Die große Mehrzahl der Petitionen war ohne seine Unterschrift in die Welt gegangen. Nur eine kleinere Anzahl war mit seiner Unterschrift versehen. Stöcker hatte nun auf Befragen verneint, daß er die Petition unterschrieben habe. Das war wahr oder nicht wahr, je nachdem man die Sache auffaßte. Wegen solcher relativen Unwahrheiten, die davon abhängen, wie der Erklärende die gestellte Frage aufgefaßt habe, kann man aber niemand der Lüge zeihen. Dafür liegt der deutliche Beweis darin, daß, wenn Stöcker in beiden Fällen die an ihn gestellten Fragen statt mit „nein" mit „ja" beantwortet hätte, auch dies relativ unwahr gewesen wäre, und man dann auch dies für eine Lüge würde haben erklären können. Der Ausspruch, daß Stöcker in jenen Füllen mit den fest-