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Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst : 3. Chodowiecki an Nicolai.
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derAllgemeinen Deutschen Bibliothek" faßte, gewissermaßen die Quintessenz seiner rationalistischen Weltansicht niedergelegt, die bei stetem Kampfe gegen alle Orthodoxie die Einheit der christlichen Offenbarung und der sogenannten natür­liche» Vernnnftreligion zu erweisen sich als Ziel gesetzt hatte. Wir haben heute eingesehen, daß ein derartiges Untcruehmeu niemals gelingen kann, dürfen jedoch nicht vergessen, daß Nieolcii trotz seines platten Rationalismus und seiner merkwürdige,, Beschränktheit, welche ihn im Alter hinderte, dem geistigen Fort­schritte in den Werken unsrer großen Dichter uud Philosophen zu folge», doch das Verdienst hat, durch seinen rastlos geführten Vernichtungskrieg gegen jeden Zelotismus und jede Heuchelei den Weg geebnet zu haben, anf dem allein die freie Forschung nnd die Humanität sich entwickeln konnten.

Außer derAllgemeinen Deutschen Bibliothek" hat keine Schöpfnng Nicolais durchschlagender gewirkt als eben seinSebaldus Nothanker." Dieser Roman muß sich zur Zeit seines Erscheinens einer nngemeinen Beliebtheit erfreut haben, und das nicht nur iu Deutschland, sondern auch im Auslande, da er in mehrere Sprachen übertragen worden ist. In kürzester Frist waren vier starke Anfingen verkauft. Eine ganze Sebaldus-Nothauker-Literntur entwickelte sich an ihm: man setzte den Roman fort, schrieb zahlreiche Abhandlungen nnd Predigten nach den, von Nievlai gegebenen Beispiele und suchte sciue Ideen zu widerlegen, indem man die vv» ihm selbst dargebotene Forin zum Muster «ahm. Nieolai sah sich daher schon am Schlüsse des zweiten Bandes genötigt, gegen eine derartige Ausnutzung seiner Arbeit Protest zu erheben; er that dies in derZuver­lässigen Nachricht von einigen nahen Verwandten des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Ans ungedrnckten Familieimachrichten gezogen," welche dem zweiten Bande als Anhang beigegebe» ist.

Heute ist derSebaldus Nothcmker" in Vergessenheit geraten, und zwar namentlich aus zwei Gründen: einmal steht der Roman als Kunstwerk auf einer sehr niedrigen Stufe, und dann ist Nicolais Satire uns, die wir unter ganz andern Verhältnissen leben, vielfach nicht mehr ohne weiteres klar. Es wird daher znm Verständnis des folgenden gut sein, wenn wir einige Be­merkungen über Inhalt und Tendenz des Romans vorausschicke».

Nievlai selbst erklärt sein Werk für eine Fortsetzung von Thnmmels Wilhelmine," deren Heldin, eine fürstliche Kammerjungfer, am Schlüsse den guten Dorfpfarrer Sebaldus heiratet. Diese Gutherzigkeit ist auch ein Hanpt- charcckterzug von Nieolnis Helden. Sein Sebaldus hat eigentlich nur eine Leidenschaft, nämlich den Wunsch, ein gelehrtes Werk über die Apokalypse zn stände zu bringen, das alle andern Kommentare übertreffen und alle falsche» Auslegungen derselben beseitigen soll. Daneben schwärmt er tüchtig für die Crusinssche Philosophie und ist ein Gegner der symbolischen Bücher, wie er denn auch die Zweifel an der Ewigkeit der Höllenftrafcn Zeit seines Lebens nicht los wird. Deshalb gilt er den orthodoxe» lutherischen Geistlichen als ein

Grenzboten I. 1885, 52