140
Siis Publikum,
für einen Menschen Raum lassenden Hühnersteigcn hinanftappten, dann, eingetreten in den weiten, dunkeln, unheimlichen Raum, nach mehrmaligem Stolpern über unsichtbare Stufen, durch die engen Zwischeuräume zwischen den Bänken, über Hühneraugen und an kantigen Knieen vorbei, sich einen Weg bahnten zu ihren so eug bemessenen Sitzplcitzchcn, und nun Schulter an Schulter, Ellbogen an Ellbogen — „Ich hatte mir eingebildet, dieses Theater wäre der Inbegriff aller Bequemlichkeit!" wagte ich halblaut gegeu meine Nachbarin znr Linken, mit der ich gekommen war, zn bemerken. „Das ist es auch!" ließ sich laut und mürrisch eine kratzige Baßstimme zu meiner Rechten vernehmen, und als ich mich erstaunt umblickte, sah ich in ein so erbostes, graubärtigcs, altes Mannsgesicht mit einem Paar so vou heiligem Wahusinn funkclndeu Auge», daß es mir eiskalt über den Rücken lief und ich es vorzog, obgleich gerade keine Vierseidel bei der Hand waren, der leisen Warnung meiner Begleiterin, die mich sanft in die Seite stieß, nachzugeben und den Handschuh, den mir der alte, streitlustige Wagnerkämpe hinwarf, nicht aufzuheben, sondern zu schweigen. Ich hatte übrigens die Genngthuung, den enragirten Greis nach einer Weile zu seiner neben ihm sitzenden Ehehälfte sagen zu höreil, daß, wenn zufällig in dem Theater Feuer ausbräche, wir alle miteinander verbrennen würden, denn nn Rettung sei bei dieser Engigkeit der Platz- und Ansgangsverhältnisse nicht zu denken. Dieser Bemerkung mußte ich innerlich mit ganzer Seele beistimmen.
Ja, man mnß wirklich ein hohes Gottvertrauen besitzen, um es iu diesen: Theater auch nur eine Stunde lang auszuhalten. Aber im Grunde, wir stehen ja immer in Gottes Hand, d. h. wir schweben in jedem Augenblicke in der Gefahr, unser Leben zu verlieren. Von der furchtbaren Unsicherheit inbezug auf die Frage, ob man gebraten oder nicht gebraten aus dem Baireuther Theater ans Tageslicht kommen wird, soll daher an dieser Stelle abgesehen werden. Das ist ja auch Sache der Wohlfahrtspolizei, die ihre sämtlichen Augen, welche sie sonst in Thcaterangelegenhciten so weit anszureißen pflegt, in diesem Falle zugedrückt zu habeu scheint. Auch über die Architektonik des Saales in ästhetischer Beziehung darf der Laie sich höchstens die Bemerkung erlauben, daß sie ihm mißfalle. Aber eine andre Frage ist es, die bei dieser Masseneinpferchuug des kunstliebenden Publikums und bei dem, was vorhergeht, ins Spiel kommt, eine Frage, die sich wohl von allgemeinen Gesichtspunkte» aus erörtern läßt, über die sich auch eine Stimme aus dem Publikum, deren Inhaber nicht die sieben Weihen der Kunst und Kunstgelehrsamkeit empfangen hat, ein Urteil erlauben darf. Es ist die Frage, auf die es vvn vvrnherein bei dieser Erörterung abgesehen war: Hat Wnguer mit seinem Baireuther Unternehmen den Zweck erreicht, den er erreichen wollte, d. h. hat er dadurch, daß er das Publikum von allen äußern Eindrücken, die nicht unmittelbar zu der Darstellung des „Musikdramas" gehören, isolirte, daß er es gewaltsam hinderte, sich mit sich selbst zu