Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen.
73
liehen"*) Nichters dadurch geschmälert werden, daß ihm ein Teil seiner ihm von Natur zukommenden Befugnisse thatsächlich entzogen ist. Die Gründe für diese Entziehung sind aber in beiden Ländern durchaus von einander verschiedene.
In Frankreich ist die heutige Verwaltungsgerichtsbarkeit der Abkömmling einer illegitimen Schwester der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Jene Schwester ist aber nicht etwa ein Kind der französischen Revolution, sondern sie ist älter, nämlich schvu ein Sprößling des absoluten Königtums mit dem Motto: I/6ta>t e'est nroi. Gewährsmann für diese Behauptung ist ein Franzose, Alexis de Toqueville, welcher in seinem vortrefflichen Werke I/unoien r^iinö st lg. r6vv- lution (Paris 1.8S7) etwa folgendes sagt (Kap. 4):
In keinem Lande waren die ordentlichen Gerichte von der Regierung unabhängiger als in Frankreich. Der König hatte nicht den geringsten Einfluß auf die amtliche Lanfbnhu der Richter, denn er konnte sie nicht entlassen, nicht versetzen und in den meisten Fällen auch nicht zu höheren Stellen befördern. Weder Ehrgeiz noch Furcht machten die Richter abhängig, aber diese Unabhängigkeit erschien nicht vereinbar mit den Bedürfnissen des absolute» Königtunis, sie wurde also unbequem, namentlich in Angelegenheiten, bei denen die königliche Macht unmittelbar intcrcssirt war. Man schuf deshalb für solche Angelegenheiten besondre Tribunale, welche aus abhängigen Richtern zusammengesetzt nnd den Unterthanen gegenüber mit dem Schein der Gerechtigkeit umgeben waren. Den ordentlichen Gerichten aber wurden die betreffenden Angelegenheiten entzogen.
Diese 6voviMon8 waren der erste Schritt auf dem Wege, welchen man einschlug, um die Zuständigkeiten der ordentlichen und unabhängigen Gerichte einzuschränken.
In Deutschlaud war eiue derartige Maßregel zu derselben Zeit nicht geboten, weil die Nichter garnicht das Maß von Unabhängigkeit besaßen wie in Frankreich, es gab demnach auch dort keine Verwaltuugsgerichte, in Frankreich aber bildete sie sich immer mehr aus. Bei jeder ueuen Negiernngsmaßregel wurde, wenn dies im Interesse des Königs lag, bestimmt, daß etwaige Streitigkeiten von dem Intendanten, in höherer Instanz von dem königlichen Rate entschieden werden sollten, den ordentlichen Gerichtshöfen wurde durch eine stehende Formel geradezu Verbote», von diese» Angelegenheiten Kenntnis zu nehmen. Was anfangs nur als eine Ausnahme galt, wurde bald zur Regel, die Thatsache verwandelte sich in Theorie.
Nicht in den französischen Gesetzen, sondern in den Köpfen derer, die diese Gesetze handhabten, faßte die Staatsmaxime Wurzel, daß alle Rcchtsstreitigkciteu, mit denen ein öffentliches Interesses verknüpft ist oder bei deueu es auf die Auslegung eiuer Verwnltungsverordnung ankommt, nicht vor das Formn des ordentlichen' Nichters gehören, daß diesem vielmehr nur die Bcfngnis zustehe, über privat-
5) Charakteristisch genug ist der nvch heute in voller Geltung stehende Ausdruck „ordentlicher Richter," als ob alle Vcrwaltnngs- und sonstigen Richter keine ordentlichen wären. Dies soll damit zwar nicht gesagt sein, allein es findet darin doch die Votksiibcrzcngnng ihren Ausdruck, daß die eigentliche Rechtsprechung nur dem Richter gebühre. Vielleicht
ließe sich für den „ordentlichen" Richter jetzt eine andre allgemein gebräuchliche Bezeichnung schaffen.
Grmzbotm I. 188S. 10