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wesentlicher Fortschritt, ein wirklicher Zuwachs zu Teil werden mnß, möchte wohl nur blinde Voreingenommenheit leugne». Andrerseits muß aber aufs ernstlichste vor der Gefahr des Kolorismus gewarnt werden: nur zu leicht wird über der schimmernden Hülle die Geriugwertigkeit des Kerns übersehen, den sie birgt, nur zu leicht täuscht die glänzende Gewandung über die schlotterigen, kraft- nnd saftlosen Formen, die sie bekleidet. Ein künftiger neuer Klassizismus, der die Errungenschaften des Kolorismus assimilirt und absvrbirt, wird erst den vollen Wert desselben offenbaren. Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß die Gegenwart Kunstgebilde von tief ergreifender ästhetischer Wirkung hervorbringt; aber diese Wirknng beruht, wie man bei näherer Betrachtung kaum leugnen wird, vielfach auf der einseitigen Ausbeutung und meisterlichen Beherrschung eines einzelnen Darstellnngsmittels, eben des Kolorits. Diese einseitige technische Meisterschaft ist aber ohne allen Zweifel als eine Art Virtuosentum zu bezeichnen; beim Kvlorismns in der Malerei ist man darüber längst im klaren — in der Musik scheint man es bisher noch nicht recht bedacht zu haben.
Um zunächst den Begriff des musikalischen Kolorismus durch ein lebendiges Beispiel zu illustriren, sei an Vrahms' „Rhapsodie" (Fragment aus Goethes „Harzreise im Winter") erinnert, die für Altsolo, Männerchor und Orchester geschrieben jedem, der sie gehört nnd verstanden, als ein Nachtbild menschlichen Empfindens erinnerlich ist, wie es düstrer kaum gedacht werden kann. An dieser Wirknng hat die Wahl der Klangfarben einen sehr bedeutsamen Anteil, der elegische Klang der Solo-Altstimme, den nirgends der helle Klang des Soprans aufhebt, die gesättigte, aber gedämpfte Fülle der Männerstimmen, denen nnr die tiefere Hälfte des Tongebietes zn Gebote steht, die auf tiefe Lagen beschränkte Behandlung der Streichinstrumente — ich denke, die düstere Stimmung ist allein schon durch diese Jnstrumentiruug gegeben, und der Komponist hat mit dem übrigen halbe Arbeit. Daß ein Pfuscher trotz der raffiuirieften Wahl der Instrumente nnd Stiinmcharaktere die Stimmung doch noch verfehlen könnte, soll nicht bestritteu werden; es ist aber interessant, zn verfolgen, wie herrlich bei Brnhms das Kolorit mithilft.
Dieses Rembraudtsche Helldunkel ist jetzt sehr in der Mode; nnd wenn anch nicht jeder eiu Reinbrandt ist wie Brahms, so verfehlt doch die Anwendung des fahlen Lichtes allein schon nicht einen gewissen Effekt hervorzubriugen, der bei den speziellen Freuuden des Kolorismus Erfolg bedeutet. Was wir bei näherer Betrachtung in diesem Dämmerlichte zu erkennen vermögen, die Sujets dieser Tonbilder, sie sind oft herzlich unbedeutend, und doch — ein interessantes Werk! ein bedeutendes Werk! hören wir hier nnd dort uud gerade von seite» derer, welche mit ihrem Urteil auf der Höhe der Zeit zu stehen scheinen, aussprechen. Und wahrhaftig, man kann ihnen nicht ganz Unrecht geben. Es ist auch interessant, zn sehen, was sich allein durch das Kolorit machen läßt. Ich will nicht weiter spezialisiren, kein Beispiel mehr anführen. Das Vrahmssche