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seit zwei Jahrhunderten Zeugnis von der ungebrochenen Kraft unsers Volks ablegt, um so aufrichtiger ist es zu beklageu, daß es nicht hat gelingen wollen, das religiöse Bewnßtsein in der Gesammtheit der Nation lebendig zu erhalten. Durch eiu vorurteilsloses Znsammengehen mit der wissenschaftlichen Arbeit Hütte eine sittliche — sit, vsnia vsrdv — einerseits die Ideen über das Jenseitige aus der mittelalterlichen Form erlösen nnd zn lebendiger Wirknng erneuern können nnd andrerseits die Wissenschaft von der Nntnr nnd vom Menschen vor einseitig mechanischer Auffassung ihreS eigenen Gegenstandes fernhalten müssen. Anstatt dessen ist die Reformationsidee, die befreiendste seit fast zweitausend Jahren, in ihrer Entwicklung verkümmert nnd verflacht, die Weltanschauung sehr weiter Kreise ist, vou deu Erfolgen des Ntomismus berauscht, zur Leugnung jedes nicht unmittelbar sinnlich faßlichen Elements in der Natnrerklärnng geschritten, und iu gerechter Besorgnis vor den Folgen dieser Anschauungsweise ist von gutgesinnten, aber nicht vorzugsweise klarsehenden der Versuch, der hoffnungsloseste von allen, gemacht worden, durch geflissentliche Stärkung konfessioneller Anschauungen die allgemein religiösen zu retten.
Nnr durch eine Kritik des naturwissenschaftlich-uiechanischen Standpunktes, welche die Lückenhaftigkeit seiner Voraussetzungen, die Mangelhaftigkeit seiner Schlüsse blvslegt, läßt sich eiu fester Boden für die Neugestaltung religiösen Lebens gewinnen. Das alte Wort des Epiknr, daß die Götter in den Zwischenräumen der Welt wohnen, hat ein moderner Forscher dahin geändert: in den Zwischenräumen unsrer Erkenntnis der Welt. Und nichts kann treffender sein. Wenn eiu Prinzip von so außerordeutlicher Faßlichkeit, von so unwiderstehlicher Anwendbarkeit wie das mechanisch-atomistische uicht uur nn vielen entscheidenden Punkten ans unlösbare Widersprüche gerät, sondern im Verlauf feiner Anwendung selbst zur Verflüchtiguug seines eignen Begriffs führt, so darf man mit Sicherheit schließen, daß es unbeschadet seiucs Herrscherrechts im Gebiete der sinnlichen Natur doch deu Zusammenhang der Dinge nicht aus seinem letzten Grunde, der ja notwendig ein einheitlicher sein mnß, verständlich macht. Es gilt innerhalb der sinnlichen Welt nach einer übersinnlichen zn suchen, und es sind Gründe geling vorHandel,, welche nns annehmen lassen, daß die Gesamintheit der nnserm Begreifen zugänglichen Dinge uur das Bruchstück einer nm- fasseudercn Ordnung ist. Die Gesetze, die für den Teil gelten sollen, müssen freilich anch für das Ganze gelten; wie sollten wir sonst der Hoffnung leben, jemals ahuen zn können, ob eine nnd die andre Tcilerscheinung dem Sinne des Ganzen zuwiderläuft oder entspricht? Aber dem Blicke, der nur bis an die Grenzen des Teils reicht, erscheinen auch die Gesetze dieses Theils anders als dem vom Mittelpunkte des Ganzen ausgehenden; überall sieht er gerade die Punkte in falscher Perspektive, in denen der Teil mit dem Ganzen zusammenhängt.
In dem. was sich innerhalb des Teils über das Ganze denken läßt, muß der Mensch eineu Anhattepnnkt sür seine eigne Bedeutung nnd dementsprechend