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nicht etwa — das darf man doch nicht vergessen — wie der Gott des Christenthums, der allmächtige und liebende Vater der Welt. Er und die Seinen sind bevorzugte Wesen, von feindlichen, mißgestalteten Kräften zwar durch feste Schranken geschieden, aber außerhalb derselben beständig bedroht. Nur wenn die Lichtgötter die Schranken ihres Himmels achten, die sie nicht selbst aufgerichtet haben, sondern die auf dem geheimnißvollen Gesetz der Weltordnung beruhen, sind diese Götter ihres seligen Daseins sicher. So ist es eigentlich das Bedürfniß der Entwicklung, der Erweiterung des Daseins, welches die Lichtgötter aus ihrem Himmel treibt. Ist die germanische Mythologie nicht auch in diesem Zug tiefsinnige Philosophie? Wollte aber Jemand gegen Wag- rier's Dichtung den Einwand machen: „was soll das Alles uns? Es mag wahr und sinnvoll sein, aber sind das die Fragen unseres Lebens?" so wird sich im Laufe/unserer Darstellung die Antwort finden.
Zwischen dem ersten Drama der Tetralogie und dem zweiten liegt eine große Veränderung des Zustandes der Götterwelt. Während die drei letzten Dramen in einer ununterbrochenen Continuität der Handlung fortschreiten, haben sich zwischen dem ersten und zweiten Drama, allerdings in Folge der Vorgänge des ersten, hinter der Scene große Veränderungen vollzogen, so daß das zweite Drama Voraussetzungen hat, die uns im ersten nicht vorgeführt worden sind, sondern die wir erzählungsweise erfahren. Für die dramatische Wirkung ist dies stets ein Nachtheil, aber freilich ein solcher, den bei einem großgegliederten Stoff zu vermeiden nur selten in der Hand des Dichters liegt. Es giebt überhaupt kaum einen dramatischen Stoff, der nicht den einen oder den andern, durch keine Höhe der Kunst überwindlichen Nachtheil hätte.
Die Veränderungen in der Götterwelt, die sich bei dem Beginn des zweiten Dramas der Tetralogie, welches der Dichter „die Walküre" genannt hat, vollzogen haben, sind folgende: Wotan, der von Erda, der wissenden Göttin, die Weissagung empfangen hat, daß ihm und den Seinen von Alberich dem Haupt der Nibelungen, Untergang drohe, sieht nun um so sicherer voraus, daß Alberich sich des alle Macht verleihenden Goldreifes, den der als Drache verwandelte Riese hütet, bemächtigen wird. Wotan glaubt, daß Alberich mit seinen Schaarcn gegen den Götterbezirk und seine Burg anstürmen wird. Um die Kräfte der Vertheidiger zu vermehren, hat er eine mit Erda erzeugte Tochter und acht andere Töchter zu Walküren gebildet, deren Beruf es ist, die Helden zu Uebermuth und Kampf zu reizen, die Erschlagenen aber von der Wahlstatt nach Walhall zu tragen, wo sie zu neuem Leben im Göttersitz erwachen, um mit den Göttern und für die Götter zu kämpfen, wenn der Sturm sich naht. Das ist die eine Neuschöpfung, die Wotan vollzogen hat. Außerdem aber hat er verkleidet die Erde durchwan-