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Selfgovermnent und "Jarlmnentarismus.*)
Unsere politischen Anschauungen in Deutschland haben im sechsten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts einen durchgreifenden Umschwung erfahren: im Gewühl der Tagesereignisse und der Tagespolitik geben wir nicht immer uns Rechenschaft davon, eine wie große Kluft uns heute mit unserem politischen Denken und Trachten schon von der Betrachtungsweise der vierziger Jahre scheidet. Damals war der große und breite Strom der öffentlichen liberalen Meinung hervorgegangen aus Theorien eines kosmopolitischen Constitutionalis- mus, wie er sich besonders am Vorbilde der französischen Charte, an den Schriften der französischen „Doctrinärs" ausgebildet hatte: ihren Ursprung sucht diese politische Doctrin einerseits in den naturrechtlichen Ideen vom Staatsvertrage, andererseits in Montesquieu's panegyrischen, aber durchaus unzutreffenden Erörterungen der englischen Verfassungszustände seiner Zeit. Was sich dieser allgemeinen liberalen Strömung damals widersetzte, das war nicht mächtig genug, ihr Einhalt zu thun und war auch im Grunde nicht genug von innerer Kraft des Gedankens erfüllt. Die theokratischen, die feudalen, die absolutistischen Theorien, wiesehr sie auch in den oberen Regionen der politischen Welt heimisch sein mochten, waren doch nicht geeignet, in der mittleren Schicht der gebildeten Kreise Wurzel zu fassen, und die Neste der „historischen Schule", einstens des Stolzes und unvergänglichen Ruhmes unserer deutschen Wissenschaft Zeuge, waren von ihrem Wege abgekommen und in den Dienst der rückschrittlichen Tendenzen getreten; man hatte sich hier gewöhnt, „das Alte zu lieben, weil es alt und nicht weil es gut war", man strebte in' dies Alte zurück, und dafür konnte man nicht Propaganda in der vorwärts drängenden Generation machen. Kurz, der Liberalismus hatte in der öffentlichen Meinung ganz entschieden das Uebergewicht. Gegen alle Schäden der staatlichen Zustände galt die Einführung einer mit möglichst weitgehenden Rechten in Gesetzgebung und Steuerbewilligung ausgestatteten Volksvertretung als unfehlbares Heilmittel. Mit fast naiver Zuversicht meinte man, im Sturmlauf, vielleicht durch Gewährungen von oben, vielleicht auch durch einige Volksaufläufe und dergleichen dies Endziel erreichen zu können.
Das Jahr 1848 ist voll solcher Hoffnungen, voll solcher Versuche. Eine
') R. Gneist Selfgavcrnment, Communalvcrfassung und Verwaltungsgcrichte in England. Dritte, nmgcarbeitetc Auflage (in einem Bande). Berlin. I. Springer !87I.
A. Todd die parlamentarische Regierung in England, ihre Entstehun.,, Entwickelung und praktische Gestaltung. Aus dem Englischen überseht van R. A s, m a u n. !. Bd, ^ 2. Bd-
1871. Berlin. I- Springer.