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Beschaffenheit des weltlichen Gesangs. Bald darauf veröffentlichte ersterer aus den reichen Schätzen seiner Bibliothek: „Ausgewählte Tonstücke für das Pianoforte von berühmten Meistern aus dem 17. u. 18. Jahrh." (Scarlatti, Pescetti. Muffat. Couperin, Kuhnau, Benda, Böhm) und damit beginnt nun die Reihe der Ausgrabungen, die bis in die jüngste Zeit eifrig fortgesetzt, besonders das Gebiet der Clavier- und Gesangmusik bereicherten. Die gleichzeitigen Forschungen auf dem Felde der kirchlichen Hym- nologie und des Choralgesangs, sowie mit diesen zusammenhängend, auf dem des Volksliedes, haben jene im hohen Grade gefördert und belebt. Werke einer Kunstepoche, die der Gegenwart fernab liegt, haben in ihrer äußeren Erscheinung immer etwas Befremdliches. Man findet sich leicht in den Ideen- gang und die Form eines modernen Tonstücks, wenn dasselbe seinem Inhalt nach weniger originell als conventionell gedacht ist. Geht man aber in Zeiten zurück, wo ein anderer Gehalt erstrebt wurde, die instrumentalen Mittel, die Technik ganz andere als heute waren, so handelt es sich für den Ausführenden nicht allein darum, der Noten und Schwierigkeiten Herr zu werden, sondern ein Werk nach Geist und Wesen, so zu sagen von innen heraus, vom Standpunkte des Tonsetzers und seiner Zeit aus, zu reproduciren. Derartiges ist aber nicht leicht; das setzt eine ungewöhnliche historische und musikalische Bildung, gründliche Kenntnisse, ernstes Studium voraus. Virtuosen von Fach, darauf angewiesen, das Brillante und Bestechende zu cultiviren, Musiker von Profession, auf den Kampf um die Existenz beschränkt, vermögen, selbst die nöthigen Vorbedingungen vorausgesetzt, selten neue interessante literarische Erscheinungen zu erfassen und zu würdigen. Kunstgelehrte und passionirte Dilettanten sind in der Regel einseitige Starrköpfe. Da nun aber nach jeder neuen Entdeckung, nach jedem interessanten Fund, großer Lärm geschlagen wird, so können Virtuosen, die den Schein tieferer Einsicht bewahren wollten, den sich auf den Markt drängenden Ausgrabungen sich doch nicht völlig verschließen und durch sie wurden denn auch viele alte, längstverschollene Tonsätze endlich sogar hoffähig gemacht und in die Concertsäle verpflanzt. Aber mit dem Vortrage derselben fanden sich diese Herren meist ziemlich übel ab. Nicht im Geiste des Komponisten und der Zeit, sondern im modernen Geschmack, aufgeputzt mit allen koketten Künsten und sentimentalen Zierrathen einer überfeinerten Technik, hört man in der Regel derartige Schöpfungen spielen. Der Concertsaal ist wohl der Ort vielen Hörern gleichzeitig die Bekanntschaft mit einem musikalischen Werke zu vermitteln, aber er ist kaum die geeignete Stätte, kleinere Tonformen, einfache Sätze, Stücke, die öfter gehört werden müssen, zum Verständniß zu bringen. Ueberlassen wir dem Concertsaale große Werke für Orchester und Chor und selbst die umfangreicheren und stärker besetzten der Kammermusik. Kleinere und feinere Piecen, denen