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land. Der Reichskanzler hat Manches gethan, was früher oder später der liberalen Partei zu Gute kommen muß, und obgleich er nie ein Wort darüber gesagt hat, so ist vielleicht diese Einführung der Diätenlosigt'eit einer der größten Dienste, den er ihr erwiesen hat. Nur müßte sie, statt sich dagegen zu sperren, das Angebot rückhaltlos annehmen, und darauf weiter bauen, um ein möglichst unabhängiges Parlament zu erlangen. Die persönlich unabhängigen Männer, welche heut einen Reichstag füllen könnten, sind etwas konservativer als im Durchschnitt die Liberalen, aber das Durchschnittsniveau politischer Gesinnung ist auch seit 24 Jahren in Deutschland so weit zu Gunsten des Liberalismus emporgestiegen, daß man sich diese Zögerung wohl gefallen lassen kann.
Ist man schon über alle Gebühr in die Diätenfrage verrannt, so ist man es noch mehr in die Vollzähligkeit der Versammlung. Es gibt kein beliebteres Argument in Deutschland als die „Würde". In der ersten Debatte eines Clubb's von sechs Leuten kann man sicher als erstes Argument die „Würde" der verehrlichen Versammlung hören. Eine Herabsetzung der Beschlußfähigkeit des Reichstages wäre auch gegen die Würde der Nation. Wenn wir einmal ohne Rückhalt sprechen wollen, so möchten wir fragen, wieviel denn unter den Mitgliedern einer großen Versammlung zu irgend einer Zeit wirklich zählen? Immer nur verhältnißmäßig Wenige. Wenn aber eine Angelegenheit zur Verhandlung kommt, die ein brennendes Interesse berührt, so wird ein Parlament voll, nicht bloß vollzählig, sein und wenn zur Beschlußfähigkeit nur der zehnte Theil seiner Mitglieder anwesend sein müßte. Die frommen Ermahnungen und die Strafreden locken nicht einen Mann in das neue Reichstagsgebäude, so glänzend es auch ist: die Ueberzeugung, daß seine Stimme in's Gewicht fallen kann, daß es sich um einen Gegenstand handelt, für den sich die Wähler interessiren, führt die Säumigen von allen Seiten herbei. Der Glaube an die Nothwendigkeit einer vollzähligen Versammlung ist ein Aberglaube, am meisten heut in Deutschland, wo man doch sicher sein kann, daß ein starker und patriotischer Geist in allen Ständen herrscht. Aber keine Logik wird im Stande sein, Jemandem einzureden, es sei von besonderer Wichtigkeit, daß Herr Simson 206 statt 205 Stimmen erhält.
— o. M. —
Der deutsche KeichsKanzler und Kerr Benedetti.
Der ehemalige kaiserlich französische Botschafter am Hofe zu Berlin, Graf Benedetti, hat vor mehreren Wochen unter dem Titel: „Na Mission tm ?i-us8e" zu Paris ein Buch veröffentlicht, aus welchem die deutschen Zeitungen bereits vielfältige Mittheilungen gebracht haben. Am 20. October hat sich zur Ueberraschung nicht Weniger, am Meisten aber wohl des Grafen Benedetti selbst, auch der deutsche'Reichsanzeiger bewogen gefunden, sich mit dem obengenannten Werke zu beschäftigen.
Die Schrift des Grafen Benedetti ist wohlgeeignet als Grundlage einer Studie über die bonapartische Staatskunst und vonapartische Staatsmänner, die wir uns vorbehalten. Heute beabsichtigen wir nur einige Bemerkungen über das Verhalten des deutschen Reichskanzlers gegenüber denjenigen Lockungen bonapartischer Staatskunst, deren Träger Graf'Benedetti war.
Schon als die Note des deutschen Kanzlers vom 29. Juli 1870 veröffentlicht wurde, begriff alle Welt, daß der korsische Diplomat, eines der