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Wittenberg und jetzt ruhte der Lehrer Deutsehlands schon seit drei Jahren neben Doctor Martin» in der Schloßkirche zu Wittenberg. Die Blüte Wittenbergs ist dahin — für immer. Das Heil der Wissenschaft wird nur noch in den weitschweifigsten Disputationen erblickt. Davon berichtet ein Zeitgenosse: „Man disputirt vor Tische, während des Tisches, nach Tische — man disputirt öffentlich und privatim — überall und zu jeder Stunde. Es ist die Ansicht der Zeit: Die Disputationen können nicht allein frisch und frech zu reden machen und die Zunge — sondern auch der Jugend Verstand in guten Künsten schärfen — eine Disputation bringt mehr Nutzen, denn 20 IketionW!" — Nach jeder Disputation wird dann weidlich gezecht und — mit Ohrfeigen und allerlei anderen wenig feinen Handgreiflichkeiten weiter disputirt: „Hör' Du Sau, Du Hund, Du Narr, oder wer Du bist, Du grober Esel... hast Du etwas gegen meine Thesis einzuwenden?" — Natürlich hat der Gegner in ebenso feiner Weise sehr viel einzuwenden — und schließlich schleudern sich beide Disputanten zur größeren Bekräftigung ihrer Einwendungen die dicksten Bücher an den Kopf — zur großen Erbauung ihrer Zuhörer. — Die Professoren halten sich oft viele Monate fern von der Universität bei irgend einem Hofe auf, für den sie allerlei Geschäfte besorgen und Gesandschaften an andere Höfe ausrichten. Natürlich fallen inzwischen ihre Lectionen aus. Auch die Magister müssen vielfach zum Fleiß in den Vorlesungen ermahnt werden — selbst bei Androhung von Körper- und Geldstrafe. Auch die Streitsucht unter den Universitätslehrern dieser Zeit ist so groß, daß der Nector Sabinus an der Albertina zu Königsberg selbst Professoren und Doctoren mit Carcer- und körperlicher Strafe bedroht, wenn sie nicht einträchtiger mit einander leben.
So macht sich Ueppigkeit und Prunksucht neben der größten Bettelhaf- tigkeit — pedantische Trägheit und Aufgeblasenheit neben der lächerlichsten Unwissenheit breit.
Natürlich gibt es auch unter diesen Lehrern und diesen Studenten in Wittenberg freundliche, leuchtende Ausnahmen. Solch' ein wohlthuendes Lichtbild aus dem Wittenberger Studentenleben jener Tage bieten die jungen pommerschen Fürstensöhne. Fromm und sittlich rein, fleißig und fröhlich leben sie unter dem wüsten Treiben dahin — sie haben sich ihre glückliche Unbefangenheit noch ganz bewahrt. Die fast klösterlich strenge Erziehung ihrer Kindheit hält trefflich vor.
Doch sorgenvoll schaut Hofmeister Christian Küssow darein. Von Tag zu Tage fühlt er sich unbehaglicher in dem Wittenberger Leben. Besonders beunruhigt unaufhörlich seine treue Hofmeisterseele, daß in der Wirthschaft „so viel drauf geht!" Schon um Pfingsten, wenige Tage nach Ankunft der jungen Fürsten in Wittenberg, schreibt er an den regierenden Herzog Johann