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und Dorilis. Herder verlangte völlige Wahrheit. Goethe hatte bis jetzt bewußtlos rieben einander gedichtet Natürliches und Gemachtes: hier hatte er lebendig Empfundenes hingesungen, daneben vielfach noch prosaische Gedanken in poetisch-rhetorische Formen kunstmäßig eingekleidet. Herder belehrte ihn, daß er in denjenigen Gedichten, bei welchen ihm übrigens selbst auch am wohlsten gewesen, gerade auf der richtigen Fährte gegangen sei: wo er nichts erklügelt und zurecht gemacht habe, sondern wo Alles wie von selbst geworden sei, wo die gehobene Stimmung Form und Ablauf der Rede gleichsam im natürlichen Wachsthum von innen hinaus gestaltet habe.
Und jede metrische und jede grammatische Fessel verschwand. Nicht Meißener Dialekt! Idiotismen! Nicht Alexandriner! nicht die Opitzische Ac- centregel! sondern die freien Rhythmen der Klopstock'schen Hymnen, oder die einfachen sangesmäßigen Formen des Volksliedes und der Romanzen oder der Hans Sachsischen Knittelverse.
Das kam dem Dichter Alles so wundervoll bequem. Und Bequemlichkeit sagte seiner ruhig gelassenen Natur außerordentlich zu. Zu Göttingen beschäftigten sich die von Herder angeregten B ürger und Miller mit den deutschen Minneliedern; Goethe, dem Straßburger Kreise überhaupt, „lagen sie zu weit ab"; die Sprache hätte man erst studiren müssen, und „das war nicht unsere Sache; wir wollten leben und nicht lernen." „Hans Sachs, der meisterliche Dichter, lag uns am nächsten; wir benutzten den leichten Rhythmus, den sich willig anbietenden Reim. Es schien diese Art so bequem zur Poesie des Tages und deren bedurften wir jede Stunde."
So hat denn Goethe den alten Meistersänger in seinen eigenen Versen auf's herrlichste besungen: Hans Sachsens poetische Sendung.
Auch dieses Gedicht nämlich fällt der Conception nach in unsern Zeitabschnitt, wenn es auch erst in den ersten Monaten des Weimarer Lebens vollendet ward. Wie stellt der gleichgestimmte Dichter den lange verkannten und mißachteten Meister anschaulich und warm gezeichnet vor uns hin! Wie bringt er seinen treuherzig-einfachen Ton zu Ehren! Ist es nicht, als ob wir den Alten selbst hörten:
Sollst halten über Ehr' und Recht, In allem Ding seyn schlicht und schlecht, Frummkeit und Tugendlieder preisen, Das Bd'ß mit seinem Namen heißen. Nichts verlindert und nichts verwitzelt ; Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt, Sondern die Welt soll vor dir stehn, Wie Albrecht Durer sie hat gesehn. —